ZWEITER TEIL

Der Rattenkönig

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KAPITEL 4

Ein unirdisches Gefühl von Trägheit lag über dem Land, als ich am Morgen die steinerne Brücke zum Westufer der Weser betrat. Der Regen fiel noch immer in dichten, grauen Schleiern, doch der stechende Nordwind, der seit Tagen durch die Gassen gepfiffen war, hatte sich gelegt. Statt seiner schien nun eine Glocke über der Gegend zu liegen, ein Anschein von Wärme, der diese Beschreibung allerdings nur im Vergleich zur schneidenden Kühle der Vortage verdiente. Gemeinsam mit der allgegenwärtigen Nässe verlieh er der Stadt und dem Umland ein fremdartiges Gefühl der Abgeschlossenheit. Geräusche klangen anders als zuvor, als sei jeglicher Nachhall aus dieser Gegend verbannt. Alle Bewegungen wirkten träger und schienen mir kraftraubender als üblich. Es war, als hätte man Hameln mit einem göttlichen Handgriff aus dem Diesseits entfernt und wie einen jungen Baum an einen fremden, merkwürdigen Ort verpflanzt.

Die Brücke war aus mächtigen Steinblöcken errichtet worden, was einiges über ihre Bedeutung für die Stadt und die Häufigkeit ihrer Benutzung verriet. Hätten nicht laufend Händler aus allen Teilen des Landes an dieser Stelle den Fluß überquert, so hätte man sicher mit einer Holzbrücke vorliebgenommen; da dies aber der einzige Übergang weit und breit war und den Stadtvätern hohe Zölle einbrachte, hatte man sie gleich aus beständigem Stein erbaut.

Sie führte, wohl aus Gründen der Festigkeit, über den Südzipfel der schmalen Flußinsel hinweg und endete an einem breiten Wiesenstreifen. Dahinter erhob sich ein bewaldeter Steilhang, die Flanke eines massigen Berges. Der Friedhof, den von Wetterau erwähnt hatte, lag unter dem rotgoldenen Herbstdach der Bäume verborgen. Wer immer ihn einst angelegt hatte, mußte seltsame Gründe gehabt haben, die Gräber in den Berghang hineinzutreiben.

Eine alte Heerstraße führte von der Brücke aus in scharfem Schwung nach links und verschwand irgendwo im Süden hinter den Bäumen. Ich verließ sie bereits nach wenigen Schritten und folgte einem schmalen Pfad den Hang hinauf zum Waldrand. Laubbäume und Fichten bildeten wild durchmischt eine dunkle Wand. Unter ihren Kronen herrschte grünes, wäßriges Zwielicht, und als mich die weitfächernden Äste in ihr Reich zogen, da war mir, als triebe ich unter der Oberfläche eines stillen Tümpels.

Der alte Gottesacker lag weiter voraus, jenseits des dichten Unterholzes. Es war nicht jener, wo meine Eltern und Juliane lebendig begraben worden waren; man hatte sie in der Erde des Armenfriedhofs, nördlich der Stadt, beigesetzt, während dies dereinst die letzte Ruhestätte der Reichen und Mächtigen gewesen war. Meine Erinnerungen daran waren kaum mehr als verblaßte Bilder laubbedeckter Grabbauten.

Der Pfad schnitt tiefer in das verwobene Geäst. Ich muß wohl eine ganze Weile steil bergauf gestiegen sein, ehe ich auf den ersten, efeuüberwucherten Eingang zu einer Gruft stieß und schlagartig bemerkte, daß ich den Friedhof längst betreten hatte. Denn als ich mich genauer umsah und auch einen langen Blick zurück auf meinen Weg warf, entdeckte ich überall, halb verborgen im Unterholz, die verfallenen Torbögen der alten Beinhäuser und Grüfte. Wie die Köpfe steinerner Fabelwesen reckten sie ihre moosbewachsenen Kuppeln und grauen Säulen aus dem Dickicht. Viele besaßen keine Türen mehr, so daß im alles beherrschenden Grün immer wieder schwarze Mäuler klafften, hinter denen unsichtbare Treppen hinab ins Innere des Berges führten. Manche Gruft mochte man an günstigen Stellen ins Erdreich gegraben haben, doch die meisten waren fraglos mit Hammer und Meißel in den Fels getrieben worden. Das, was an der Oberfläche von ihnen zu sehen war – die Bögen, Leichenkammern und überdachten Einstiege –, hatte sich der Wald längst zu eigen gemacht. Jemand, der nichts davon wußte, hätte hier entlanggehen können, ohne überhaupt zu bemerken, daß unter ihm die Gebeine Hunderter von Leichen lagen.

Ich ging weiter, in der Hoffnung, früher oder später auf einen der Friedhofsbewohner zu stoßen. Ich hatte keine Furcht vor den Menschen, die sich hierher verkrochen hatten; ich war allein, unbewaffnet bis auf meinen Dolch und bedeutete für niemanden eine Gefahr. Zudem trug ich meine Reisekleidung, an der jeder erkennen konnte, daß ich nicht aus Hameln stammte.

Es dauerte nicht lange, da bemerkte ich, daß sie um mich waren. Hastige Bewegungen am Rande meines Blickfeldes, leises Rascheln im Unterholz, gelegentlich ein Tierschrei, der klang, als habe ihn ein Mensch als Signal ausgestoßen – dies alles verriet mir ihre Anwesenheit. Erstmals fühlte ich ein eisiges Ziehen in meinem Rücken, ein unangenehmes Frösteln auf der Haut.

Warum zeigten sie sich nicht? Planten sie trotz allem einen Hinterhalt?

Vor mir öffnete sich das Labyrinth der Bäume und Bauten zu einer von Menschenhand geschaffenen Lichtung. In einem Umkreis von zehn Schritten hatte man Stämme gefällt und Buschwerk entwurzelt und so eine kreisförmige Wunde im Wald geschaffen.

In der Mitte dieser Lichtung wuchs ein einzelner Sprößling. Er war etwa so groß wie ich selbst und würde in zwei oder drei Jahrzehnten einmal ein mächtiger Baum sein. Jetzt aber stand dort nur ein dürrer Stamm mit ein paar kümmerlichen Ästen, dünner als mein Daumen.

Ich verharrte kurz, sah mich um, dann machte ich einen Schritt auf das Pflänzchen zu – und augenblicklich kam Leben in die Stätte der Toten!

Mindestens drei Dutzend Gestalten schoben sich aus dem Dickicht. Die Männer hielten Knüppel, Messer, sogar Kurzschwerter in Händen, die Frauen drohten mir mit Stöcken. Während ich dastand und mein Erschrecken mit einer Miene der Gleichgültigkeit zu überspielen suchte, füllte sich die Lichtung mit den Bewohnern des Friedhofs. Es gab solche, die aussahen wie normale Bürger oder Bauern, einige sogar in edler, wenn auch schmutziger Kleidung; da waren Huren in einstmals aufreizenden Gewändern, jetzt verdreckt und zerrissen, das Haar filzig und grau; ich sah Männer mit langen Bärten und Holzkreuzen in den Händen, vielleicht gläubige Einsiedler, die hier Schutz gesucht hatten. Andere waren da, denen Mord und Raub in den Augen glänzten und denen die Furcht vorm Henker den Weg hierher gewiesen hatte. Vor allem aber sah ich Kinder – gesunde, schmutzige Kinder.

Niemand sprach ein Wort. Stumm drängte sich die Menge zwischen mich und den jungen Baum, als sei er ein Schatz, den es zu schützen galt. Da fiel mir ein, was von Wetterau über die Esche vor Hamelns Tor gesagt hatte; ein Heiligtum sei sie den Wodan-Jüngern, ein Abbild der göttlichen Weltenesche. Offenbar hatten die Heiden aus den Hinrichtungen ihrer Brüder gelernt und zogen sich nun auf dem Friedhof, geschützt vor den Schergen des Bischofs, eine eigene Esche heran.

»Was willst du?« fragte eine dicke Frau in einem Kleid, das einst farbig gewesen sein mochte. Jetzt war es nur noch braun vor Dreck, und um ihr feistes Gesicht stand es nicht besser. Jedes Merkmal ihres Alters lag verborgen unter einer Maske aus Staub und Schmutz. Sie sah aus wie eine Dirne, an der sich früher die Männer erfreut haben mochten, die nun aber niedergesunken war in einen Pfuhl schlimmer als jedes Sündenhaus.

»Ich bin ein Gesandter des Herzogs«, erklärte ich kühn.

»Ein guter Grund, dich aufzufressen«, schrie ein Mann und fletschte bedrohlich die Zähne. Eine Vielzahl seiner Kumpanen brach in rauhes Gelächter aus.

Die fette Hure, offenbar die Wortführerin des Haufens, brachte die Männer mit einer barschen Handbewegung zum Schweigen. Sie gehorchten ohne Murren.

»Wenn dich der Herzog schickt, was will dann er von uns?« fragte sie.

Eine Weile lang hatte ich erwogen, mich nicht zu erkennen zu geben und unerkannt Nachforschungen im Lager der Wodan-Jünger anzustellen. Doch schließlich war mir ein solches Vorhaben in Anbetracht der baldigen Ankunft des Herzogs als zu langwierig erschienen, so daß ich mich für den direkten, ehrlichen Weg entschlossen hatte. Mochte sein, daß sich dies nun als Fehler erwies.

Statt einer Antwort fragte ich: »Bist du die Anführerin dieser Leute?«

Die Frau nickte und trat einen Schritt auf mich zu. Die Bewegung ließ ihren Wanst in Wellen erbeben. »Ich bin die Priesterin dieser Gemeinschaft«, sagte sie. »Man nennt mich Liutbirg. Wie ist dein Name, Fremder?«

»Robert von Thalstein«, entgegnete ich.

War da plötzlich ein Funkeln in ihren Augen? Der Hauch eines Wiedererkennens? Nein, unmöglich.

»Laß mich unter vier Augen mit dir sprechen«, fügte ich hinzu, wenngleich mir bei dem Gedanken an ein Alleinsein mit diesem Koloß von Frau übel wurde.

Ein Mann trat neben Liutbirg und legte den Mund an ihr schmutziges Ohr. »Vielleicht hat ihn der Vogt mit dem Auftrag gesandt, dich zu töten.«

Als Dank für die Warnung scheuchte sie den Kerl mit einem heftigen Stoß davon. »Glaubst du, auf den Gedanken sei ich nicht selbst gekommen?«

Der Mann kuschte und drängte sich zurück in die stumme Menge.

An mich gewandt sagte sie: »Leg deinen Dolch ab und folge mir.«

Ich trug den Dolch unter dem Wams versteckt, Liutbirg hatte ihn unmöglich sehen können. Ich verdrängte jedoch alle unliebsamen Erklärungen, wie sie ihn trotzdem hatte entdecken können, zog die Waffe unter dem Stoff hervor und reichte sie ihr. Die selbsternannte Priesterin nahm den Dolch beinahe verächtlich entgegen und drückte ihn einem ihrer Getreuen in die Hand. »Bewahre ihn gut«, befahl sie.

Mein Herz schlug schneller, als sie voranging, dabei jedoch einen weiten Bogen um den jungen Baum in der Mitte der Lichtung machte. Offenbar wollte sie mich nicht zu nahe an ihr Heiligtum heranlassen. Durch eine Schneise in der Menge folgte ich ihr bis zum Waldrand und dann bergauf durch dichtes Unterholz, bis wir eine Felswand erreichten, in die man Stufen gemeißelt hatte. Wir stiegen diese Treppe hinauf und gelangten schließlich auf eine Felsplattform. Bei besserem Wetter mußte man von hier aus die gesamte umliegende Landschaft überblicken können; nun allerdings verschleierte der Regen jede Sicht in weitere Fernen. Unten im Tal, gar nicht weit von hier, sah ich Hameln liegen. Von oben bot sich die Stadt als eine Art Kreis dar, deren südliche und nördliche Ränder mit Häusern bebaut waren. Dazwischen dräute der schwarze Sumpf. Hinter der Stadt erhob sich der Kopfelberg mit seinen Wäldern und Höhlen, wo Dante den Einstieg zur Hölle gesucht hatte.

»Sprich«, verlangte Liutbirg barsch. »Was will der Herzog von uns? Ich bin sicher, er weiß, daß wir auch für ihn auf diesem Friedhof unantastbar sind.«

»Sicher«, erwiderte ich eilig und dachte bei mir: Warte ab, bis ich weiß, was ihr den Kindern angetan habt. Dann wird euch kein Schutzheiliger vor eurer gerechten Strafe bewahren können.

Ich wollte eben weitersprechen, als mein Blick auf einen rechteckigen Steinklotz fiel, den Liutbirg selbst mit ihrer beachtlichen Körpermasse nur halb vor mir verbergen konnte. Es handelte sich offenbar um eine Art primitiven Altar, der einige Schritte hinter der Priesterin stand, dort, wo das Felsplateau an den Waldrand grenzte. Braune Flecken bedeckten die Oberfläche des Steins. Erst glaubte ich, es seien Flechten, dann aber begriff ich, daß es Blut war. Braunes, getrocknetes Blut. Hier brachte der Kult dem Götzen seine Opfer dar.

Es konnte unmöglich Zufall sein, daß Liutbirg mich ausgerechnet hierher geführt hatte. Doch welche Absicht lag darin, mir die Blutopfer der Wodan-Jünger zu gestehen? Mußte dies meinen Verdacht gegen sie nicht bestärken? Oder wollte sie durch ihre Ehrlichkeit mein Vertrauen gewinnen? Welch plumpes Unterfangen!

Ich versuchte, meine Gedanken für mich zu behalten, und berichtete der fetten Priesterin statt dessen aufrichtig, was mich nach Hameln geführt hatte. Dabei verschwieg ich den Verdacht gegen ihren Kult, so daß es mich um so mehr erstaunte, als sie sagte:

»Und du glaubst, wir hätten diese Kinder entführt?«

Ein herzhaftes Lachen entfuhr ihren wulstigen Lippen. Kein schöner Anblick, kein angenehmer Laut. »Weshalb hätten wir das tun sollen?«

»Um euch an den Menschen aus Hameln zu rächen«, entgegnete ich scharf, des Versteckspiels überdrüssig. Ich war Ritter des Herzogs; sie würde nicht wagen, ihre Männer auf mich zu hetzen.

»Rache ist etwas für Götter, nicht für uns Sterbliche«, sagte sie voller Überzeugung und deutete mit einer Hand hinauf in den tiefgrauen Himmel. »Dereinst wird Wodan den Sturm über diese Stadt bringen. An der Spitze seiner wilden Jagd wird er durch die Gassen preschen und die Schuldigen mit sich nehmen. Und glaube mir, Robert von Thalstein, dieser Tag steht eher bevor, als manch einer dort unten denken mag. Spürst du, wie sich die Luft verändert, wie der Wind verstummt? Kannst du es fühlen? Natürlich – jeder hier kann es. Wodan versammelt die Winde um sich, und mit ihnen die Seelen der Toten. Dies ist die Ruhe vor dem Sturm – vor Wodans Sturm!«

Ich wollte etwas darauf erwidern, wollte ihr sagen, was ich von ihrem heidnischen Geschwafel hielt, sogar auf die Gefahr hin, selbst auf dem Altar der Ketzer zu landen. Doch Liutbirg kam mir erneut zuvor:

»Oh, ich weiß genau, wer diesen Verdacht in dein Herz gesät hat, ich kenne unsere Feinde. Der Probst hat mit dir gesprochen, nicht wahr? Gunthar von Wetterau ist es, der uns anklagt, nicht du und nicht dein Herzog.«

Erneut war es ihr gelungen, mich in gelindes Erstaunen zu versetzen. Diese Frau wußte Dinge, die sie nach den Gesetzen der Vernunft nicht wissen konnte.

»Das Blut, das du dort siehst«, fuhr sie aufgebracht fort, »ist das Blut von Tieren. Kein Mensch ist auf diesem Altar gestorben, und keiner wird es je. Es ist wahr: Wir verehren Wodan, den Herrn aller Götter. Wir leben auf einem Friedhof, und viele von uns werden vom Gesetz verfolgt, wegen Kuppelei und Raub, wegen Entführung und sogar wegen Mordes. Doch glaube mir, wir haben keinem dieser Kinder etwas zu leide getan, noch kennt einer von uns den Ort ihres Aufenthalts. Irgend etwas ist dort unten in Hameln geschehen, etwas, für das man uns die Schuld geben will, und ich weiß nicht einmal, was es ist. Wenn dir wirklich etwas an deiner Aufgabe liegt, dann finde die Wahrheit heraus und vertraue nicht aufs Geratewohl einem Sklaven eurer Kirchenfürsten. Sag, Ritter Robert, was weiß du über Gunthar von Wetterau?«

»Nicht er ist es, um den es geht«, warf ich ein, erzürnt durch ihre schamlosen Worte.

Sie schien den Einwurf nicht wahrzunehmen. »Dieser Mann ist besessen«, fuhr sie fort. »Er ist besessen von der Macht der Kirche, ebenso wie sein Herr, der Vogt Ludwig von Everstein – und wie dessen Herr, der Bischof von Minden. Einer ist nicht besser als der andere, und doch ist Gunthar von Wetterau der gefährlichste von allen. Hast du die Mysterienbühne auf Hamelns Marktplatz gesehen?«

Ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete hinab in die Tiefe, und, tatsächlich, dort ragten die Aufbauten der Bühne aus dem Stadtrund wie Knochen aus einem offenen Grab.

»Gunthar von Wetterau ließ sie errichten«, sagte die Priesterin. »Er überzeugte die Bürger der Stadt, arm wie reich, von der Notwendigkeit der Mysterienspiele zu Ehren eures Judengottes. Hah! Nur einem gereichen sie zur Ehre, und das ist von Wetterau selbst. Er hat einen Pakt mit dem Papst geschlossen: Bringt er die Spiele ohne Zwischenfall zu ihrem glorreichen Ende, so wird ihn Roms oberste Pfaffe nach seinem Tode heiligsprechen. Begreifst du? Gunthar ist dann selbst ein Heiliger, und er verfolgt dieses Ziel mit aller Macht, die ihm im Namen von Kreuz und Schwert verliehen wurde. Er selbst wird am letzten Tag der Spiele die Rolle des Gottessohnes übernehmen und sich ans Kreuz binden lassen. Gleichzeitig wird ihn ein Gesandter des Papstes segnen, um den Bund mit dem Heiligen Stuhl zu besiegeln – so lautet die Abmachung.« Sie lachte schrill auf. »Und dieser Mann wirft uns vor, in gläubigem Wahn zu handeln!«

Ich muß gestehen, daß ihre Worte mich verwirrten. Was sie sagte, paßte auf eigentümliche Weise in jenes Bild, das ich selbst mir von Gunthar von Wetterau gemacht hatte. Seine Besessenheit von den Kreuzzügen, seine bizarre Reliquien-Sammlung, Dinge, die seine seltsame Frömmigkeit belegten. Aber was sollte das Gerede von einer Heiligsprechung? Von einem Pakt mit dem ehrwürdigen Papst?

»Woher weißt du all diese Dinge?« fragte ich.

Liutbirg lachte wieder, doch diesmal klang es verächtlich, beinahe schmerzvoll. »Davon hat er dir nichts erzählt? Ja, er redet nur von seinem Haß, verschweigt alles andere.«

Ich musterte sie zweifelnd. »Was verschweigt er?«

Einen Herzschlag lang schien es, als würde eine unsagbare Traurigkeit sie überwältigen. Dunkel waren ihre Augen. Dann, von einem Augenblick zum nächsten, erlangte sie ihre Beherrschung zurück.

»Gunthar von Wetterau ist mein Bruder«, sagte sie leise.

Fassungslos starrte ich sie an. Dieses Weib – fett, schmutzig, im Gewand einer Dirne – war die Schwester eines Kreuzritters? Des ehrwürdigen Probstes zu Hameln?

Ehe ich etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Du glaubst, daß ich lüge? Daß ich all dies erfinde, um dich von unserer Unschuld zu überzeugen?« Sie straffte ihren schweren Körper, ein eisiger Hauch schien ihre Züge einzufrieren, und plötzlich lag um ihre Erscheinung in der Tat etwas wie die Aura einer Priesterin. »So höre denn, was ich zu sagen habe, Ritter Robert von Thalstein. Selbst wenn wir für den Tod der Kinder verantwortlich wären, könntest weder du noch der Herzog, noch die Kirche uns auf diesem Friedhof etwas anhaben. Bevor es aber soweit ist, sollst du noch einmal erfahren, daß wir nichts über diese Jungen und Mädchen wissen. Hüte dich, uns allein aufgrund der Worte meines Bruders zu verurteilen. Wenn du wirklich von unserer Schuld überzeugt bist, so beweise sie.« Mit einem Ruck wandte sie sich ab und ging zur Treppe.

»Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Ich rief ihren Namen, doch sie drehte sich nicht um. Statt dessen stieg sie die Stufen hinunter und ließ mich einfach stehen. Ich folgte ihr eilig, doch als ich sie am Fuß der Treppe einholte, wußte ich nicht, was ich noch hätte sagen können. Ich gestand mir schweigend ein, daß ich nicht für Aufträge wie diesen geschaffen war. Die Ehre meines Herzogs mit dem Schwert zu verteidigen, ja, das vermochte ich sehr wohl; doch Schuld und Unschuld in einem Fall wie diesem abzuwägen überstieg meine Kraft und Erfahrung. Zum ersten Mal fragte ich mich, warum der Herzog gerade mich auf diese Mission entsandt hatte. Warum keinen älteren, bewährten Recken? Die Antwort blieb ich mir schuldig.

Schweigend stiegen wir durch den Wald hinab zur Lichtung. Mir brannte die Frage auf den Lippen, wie es zum Zwist zwischen ihr und dem Probst gekommen war. Allerdings: Genügte nicht ein Blick auf ihre Erscheinung, um die Lösung dieses Rätsels zu erkennen? Oder war auch das wieder ein vorschnelles, allzu leicht gefaßtes Urteil?

Zu meinem Erstaunen hatte sich die Menge auf der Lichtung zerstreut. Einige Frauen legten am Fuß der jungen Esche Körbe mit Obst und Gemüse ab. Aus dem Eingang einer Gruft drang der wohlige Duft frischgebackenen Brotes herauf; offenbar hatten die Wodan-Jünger dort unten eine Backstube eingerichtet. Gefahr und Bedrohung, die bei meiner Ankunft im Lager fast greifbar gewesen waren, schienen auf einmal verschwunden.

Ein junges Mädchen lief auf mich zu und überreichte mir meinen Dolch. Dann hielt sie mir aufgeregt einen Tonkrug entgegen. »Trink, mein Ritter«, bat sie.

Ich blickte zu Liutbirg. »Wollt ihr mich vergiften?«

Sie schüttelte betrübt den Kopf. »Glaubst du das wirklich?«

Bereits ihren Bruder hatte ich zu Unrecht verdächtigt, mir Gift in Speise und Trank zu mischen. Nun auch sie? So schmählich und blasphemisch das Treiben der Wodan-Jünger sein mochte, so friedfertig schienen sie doch zu sein. Gewiß, Dante hatte mich gewarnt. Doch waren die Männer, die ihn bedroht hatten, nicht reich gekleidet gewesen? Zweifellos konnten sie dann nicht von diesem Friedhof stammen.

Ich setzte den Krug an die Lippen und nahm einen vorsichtigen Schluck. Ein herb-süßer Geschmack floß durch meinen Mund. Ein wahrhaft köstlicher Trunk.

»Was ist das?« fragt ich.

Liutbirg lächelte milde, das erste Mal, daß ich sie so sah. »Met«, entgegnete sie, »ein Wein aus Bienenhonig. Er läßt uns die Wahrheit erkennen. Man trinkt wohl dergleichen nicht am Hofe des Herzogs?«

Ich verneinte und leerte der Krug mit einem Zug. Augenblicklich breitete sich Wärme in meinem Körper aus. Mir wurde zunehmend wohliger zumute.

»Hab Dank«, sagte ich zu dem Mädchen, das sofort mit dem leeren Krug in einem offenen Beinhaus verschwand. Zu Liutbirg sagte ich: »Wenn du die Wahrheit gesprochen hast, wird niemand euch mehr belästigen. Solltet ihr aber in das Schicksal der Kinder verwickelt sein, so glaube mir, daß –«

»Ja«, unterbrach sie mich barsch. »Geh jetzt und forsche weiter. Finde die Schuldigen und stelle sie vor ihren Richter. Wodans Zorn möge dich führen.«

Bei diesen Worten senkte sich aus dem Geäst über dem Friedhof ein Rabe herab und setzte sich vor ihrem Fuß auf den Boden. Aus pechschwarzen Augen blickte das Tier mich an. Auch am Himmel über der Lichtung kreiste ein halbes Dutzend schwarzer Vögel. Ich spürte, wie mein Geist sich mit ihnen zu drehen begann. Der Met tat seine Wirkung.

So wandte ich mich um und ging. Keiner versuchte mich aufzuhalten, ja, niemand schien mir auf meinem Weg mehr als flüchtige Beachtung zu schenken. Ich ließ den Friedhof hinter mir und folgte dem steilen Pfad bergab. Die Umgebung schien mit jedem meiner Schritte stärker zu verschwimmen, doch ich wußte nun, daß dies nicht die Folge eines tückischen Giftes war. Allein, ich war berauscht von des Weines süßer Wonne.

Ich hatte den Waldrand eben hinter mir gelassen und näherte mich durch die Wiesen der alten Heerstraße, als ich auf der Brücke nach Hameln Bewegung bemerkte. Die Sicht war schlecht, doch es war kein Nebel, der mir den Blick verschleierte. Über mir kreisten die Raben, und um mich kreiste die Welt, und mit einemmal hatte ich Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Während ich noch überlegte, ob es ratsam sei, mir im Gras einen weichen Platz zu suchen, näherten sich die Gestalten von der Brücke aus. Es waren viele, sicherlich zehn oder zwanzig, dunkle Umrisse auf mächtigen Rössern. Loderten ihre Augen nicht in unirdischem Feuer? Klang ihr Schnauben nicht wie das Trompeten höllischer Hörner?

Bei Gott – was war das, was sich da näherte?

Ich blieb stehen wie vom Blitz getroffen. Mir war, als sei mein Körper zu Stein erstarrt. Die finstere Masse kam näher und näher. Hufe schlugen Funken auf dem steinernen Pflaster, ihr Lärm dröhnte in meinen Ohren und hallte durch meinen Kopf wie in einer Felsenschlucht. Kälte kroch über meine Haut, die Haare in meinem Nacken richteten sich auf. Ich hörte das Flattern von Fahnen (war es nicht eben noch windstill gewesen?) und das Knarren lederner Sattel. Jetzt wurden auch verzerrte Stimmen laut, die in mein Denken schnitten wie giftige Klingen.

Ich stand da und konnte nur hilflos mitansehen, wie sie näher kamen. Sie folgten der Straße, nahmen die Biegung hinter der Brücke und ritten nun direkt auf mich zu. Düster, dräuend, übles Schicksal in Menschengestalt.

Doch waren dies Menschen? Ich sah ihre Gesichter nicht, nur die Augen schienen zu glühen. Dunkelheit wand sich aus den Schatten ihrer Kapuzen und Helme gen Himmel, gleich schrecklichen Hörnern auf Teufelsstirnen. Fletschten sie nicht die scharfen Zähne, zeigten sie nicht mit Vogelkrallen auf mich?

Dann waren sie bei mir, ritten einfach vorüber, lachten über mein Schwanken, lästerten angesichts meiner Verwirrung. Die vorderen waren schon vorbei, als sich einer aus dem Sattel beugte. »Wie ist Euch, edler Ritter?« fragte er spöttisch.

»Wohin?« hörte ich mich stammeln.

»Gen Minden«, entgegnete der Mann und zügelte sein Roß. »Wir sind die Eskorte für den Bischof. Der Vogt selbst führt uns an.«

»Everstein?« fragte ich und verstand mich kaum selbst.

»Er zieht mit uns fort. Erst zum großen Höhepunkt des Mysteriums werden wir wiederkehren. Viel Glück bei Eurem Streben, Ritter.« Unter schallendem Gelächter der übrigen hieb der Mann seinem Pferd die Fersen in die Flanken und sprengte mit den anderen davon. Und in der Tat, der Mann an ihrer Spitze war der Vogt, der ehrbare Ludwig von Everstein. Er lachte nicht, sah einfach stur geradeaus. Mit ihm und seinen Männern zog auch die Dunkelheit davon, eine verblassende Erinnerung, wie ein Alptraum in einer Winternacht.

***

Ich weiß nicht, wie ich zurück ins Gasthaus gelangte. Ob allein oder mit Hilfe eines unbekannten Samariters – ich habe es nie erfahren. Wahrscheinlich ist, daß ich die Strecke aus eigener Kraft bewältigte, mich hinauf in meine Kammer schleppte und so wie ich war – schmutzig, naß, in aller Kleidung – auf mein Lager fiel.

Gewiß aber ist eines: Die merkwürdigen Bilder, die ich an der Brücke gesehen hatte, nahmen auch hier noch kein Ende. In meinem Geist vermischten sich Dantes Höllenvisionen mit einer scheinbaren Wirklichkeit, die, wie ich heute weiß, gleichfalls meiner Traumwelt entstammte. Erneut sah ich mich durch brennende Felsentäler wandeln, auf der Flucht vor einer gestaltlosen Gefahr, doch obgleich ich rennen wollte so schnell ich nur konnte, sah ich mich doch selbst mit träger Behäbigkeit einhergehen, als sei ich nicht länger Herr meines Körpers, meiner Sinne, meines Denkens.

Da erwachte ich – oder glaubte zu erwachen.

Ich fühlte mich seltsam wesenlos. Ich blickte zurück und versuchte mich zu erinnern, doch die Vergangenheit war wie eine Tür ins Nichts. Meine Erinnerung war ein kalter, leerer Raum in einem kalten, leeren Haus. Ich begriff, daß etwas mit mir geschah, doch was es war, das erkannte ich nicht. Alles schien vage, das Gestern, das Vorhin; nur das Jetzt hatte eine klar umrissene Schärfe.

Ich setzte mich aufrecht, blickte mich um. Die Schatten hatten das Kruzifix an der Wand noch stärker mit ihren Finsterfäden umwoben, die Schenkel des Kreuzes verschmolzen mit der Dunkelheit. Ich wußte, wo ich mich befand, und ich wußte auch, was ich hier wollte, wen ich suchte. Ich stand auf und horchte.

Da waren Laute. Mit angehaltenem Atem sah ich hinauf zur hölzernen Decke. Es klang, als liefe eine Vielzahl von Füßen über meiner Kammer umher, doch es waren leichte, keinesfalls menschliche Schritte. Jetzt schienen sie an den Wänden herabzukrabbeln, nicht nur außen an der Fassade, auch in den angrenzenden Zimmern. Als ergösse sich vom Dachstuhl eine Unzahl vielbeiniger Tiere über die Kammer. Gleichzeitig packte mich ein eisiger Luftzug, und etwas schloß sich – wie eine gewaltige Tür. Dann war es vorbei.

Stille.

Mein Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Ich stand immer noch da wie versteinert.

Die Ruhe war nur von kurzer Dauer. Erneute Geräusche ließen mich zusammenfahren. Sie drangen aus dem Nebenzimmer, dort, wo bis gestern Dante gewohnt hatte. Ein Hacken und Brechen und Klatschen. Ganz so, als zerteile jemand Fleisch mit einem Beil.

Auf Zehenspitzen schlich ich zur Tür. Ich öffnete sie und spähte furchtsam hinaus. Der Flur war derselbe wie immer, keine Spur von Tieren, die an Wänden krochen. Ich trat hinaus und überwand die wenigen Schritte bis zur Tür des Nebenraumes. Das abscheuliche Hacken war hier noch deutlicher zu hören. Mir fröstelte.

»He«, flüsterte ich ans Holz der Tür gepreßt. »Meister Nikolaus, seid Ihr da?«

Keine Antwort.

Statt dessen brach das Hacken mit einem Mal ab.

Ich wich zurück, in der Befürchtung, die Tür würde aufgerissen, jemand könne herausspringen und – Nichts tat sich. Kein Hacken, kein Atmen, keine Schritte, nur Stille.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, trat vor und drückte gegen die Tür. Sie schwang ohne jeglichen Widerstand nach innen. Ohne einzutreten, blickte ich in die Kammer.

Nikolaus lag vor seinem Bett auf dem Boden, umrahmt von einer glitzernden Blutlache. Ein langes Messer stak neben ihm in den Dielen. Wo sein Kehlkopf gewesen war, klaffte eine breite, rote Öffnung. Noch immer sprudelte das Leben aus der Wunde und vereinigte sich mit der beachtlichen Pfütze am Boden. Der widerlich warme Geruch nach Eisen war überwältigend.

Gefangen von dem grausamen Anblick machte ich einen Schritt nach vorne, dann einen zweiten. Und plötzlich begriff ich, daß wer immer den Baumeister der Mysterienbühne ermordet hatte, noch in der Kammer sein mußte! Ich wirbelte herum, bereit, mich dem Angreifer entgegenzustellen – doch da war niemand. Nicht hinter der Tür, nicht unterm Bett. Ich war das einzige lebende Wesen im Zimmer.

Die Augen des Leichnams waren weit geöffnet und starrten zur Decke. Hatte auch er die flinken Schritte hinter den Wänden gehört? Statt einer Antwort floß aus seinem Mund ein dunkler Blutfaden.

Ich griff nach dem Messer, wog es nachdenklich in der Hand. Nikolaus’ Blut quoll zwischen meinen Fingern hervor. Angewidert öffnete ich die Faust. Die Klinge polterte zurück in die rote Lache.

Da schlugen plötzlich all meine Sinne Alarm. Etwas anderes verdrängte den metallischen Blutgeruch. Rauch, durchfuhr es mich. Feuer!

Ich sprang auf und hastete zurück in mein Zimmer. Schlug die Tür zu.

Und erwachte erneut.

Ich lag im Bett, und alles um mich war verschwommen. Dichte Rauchschwaden hingen in der Kammer, und vom Flur erklangen laute Rufe und Schritte. Kein Zweifel: Die Herberge brannte!

Ich sprang hoch und riß die Tür auf. Eine Wand aus dunklem Qualm schlug mir entgegen. Mein Atem stockte, als mir der Rauch in Mund und Nase drang. Augenblicklich schossen Tränen in meine Augen. Hustend und keuchend sprang ich auf den Flur.

Maria stand plötzlich vor mir, als hätten die Schwaden Gestalt angenommen. Sie drückte mir ein nasses Tuch in die Hand. »Haltet Euch das vors Gesicht, Herr!« rief sie und tat das gleiche mit einem zweiten Stück Leinen.

»Wir müssen hier weg«, schrie ich durch den Stoff hindurch, doch Maria schüttelte den Kopf.

»Das Feuer ist bereits gelöscht«, sagte sie. »Die Gefahr ist gebannt.«

»Was ist passiert?« fragte ich, angesichts des dichten Qualms keineswegs beruhigt.

»In der Kammer neben der Euren ist ein Brand ausgebrochen«, erwiderte sie und deutete durch den Rauch zur Tür des Nebenzimmers.

Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Meine Knie wurden weich wie Wachs. Ein unirdisches Gefühl, als hätte mich der Traum zurück in sein Zerrbild einer Wirklichkeit gerissen, bemächtigte sich meiner. Ohne Marias weitere Worte zu beachten, stürmte ich an ihr vorbei zu der offenen Tür. Die alte Wirtin stand im Zimmer und hatte soeben das Fenster geöffnet. Der Rauch trieb in grauen Wirbeln hinaus und gab den Blick frei auf das, was am Boden lag.

Die Leiche des Baumeisters war pechschwarz, seine Haut schälte sich verkohlt vom Fleisch. Sein Kopf war nur noch eine dunkle, glatte Kugel; die Flammen hatten in ihrer feurigen Wut Gesicht und Haare verzehrt. Auch der Boden um ihn herum hatte sich schwarz gefärbt.

In der Asche, gleich neben der Leiche, lag ein Messer.

Voller Entsetzen wandte ich mich ab und schloß für einige Herzschläge die Augen. Dann erst sah ich ein zweites Mal hin. Ich vermochte nicht zu sagen, ob es dasselbe Messer war wie jenes, das ich im Traum gesehen hatte – so es denn ein Traum gewesen war.

Da sagte Maria: »Herr, Ihr habt Euch verletzt. Eure Hand ist voller Blut.«

Fassungslos starrte ich erst sie, dann meine Hand an. Maria hatte recht. Meine Finger waren blutgetränkt, doch es gab keine Wunde.

»Laßt mich sehen«, bat Maria und wollte nach meinem Unterarm greifen, doch ich schreckte fast panisch vor der Berührung zurück.

»Nicht!« entfuhr es mir.

Maria zuckte erschrocken zusammen. »Herr, ich wollte nur –«

»Es ist nichts«, entgegnete ich eilig, zwang mich aber zugleich zu äußerer Ruhe. »Ein Holzsplitter an der Tür, nur ein kleiner Schnitt. Nichts weiter.« Ich atmete tief durch. Und wünschte sogleich, daß ich es nicht getan hätte: Noch immer waren Kammer und Flur voller Rauch. Beißend drang er in meinen Rachen, und ein Hustenanfall bemächtigte sich meiner.

»Es geht schon«, stöhnte ich schließlich, um weiterer Hilfe zuvorzukommen. Ich deutete auf den verkohlten Leichnam. »Wie konnte das passieren?«

Erstmals ergriff die dicke Wirtin das Wort: »Das sollen die Soldaten herausfinden. Der Knecht ist schon unterwegs, um Hilfe zu holen.«

»Ihr habt das Feuer selbst gelöscht?« fragte ich. Es war schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Immer wieder stand das Bild des ermordeten Mannes vor meinen Augen. Meine Handfläche schwitzte, wo sie im Traum den Messergriff berührt hatte.

Maria nickte. »Es war kein großes Feuer. Nur der Herr brannte, sonst nichts.«

Ein Blick durch die Kammer bestätigte mir ihre Worte. Außer am Toten und jener Stelle auf dem Boden, wo er lag, hatten die Flammen keine Spuren hinterlassen. Offenbar waren die Frauen gerade noch rechtzeitig gekommen, um Schlimmeres zu verhindern. Wie aber konnte ein Mensch allein in Flammen aufgehen? Ich erinnerte mich an die brennbaren Öle, mit denen man das Holz des Scheiterhaufens auf dem Marktplatz getränkt hatte. War Nikolaus Meister vielleicht mit einer ähnlichen Flüssigkeit besprüht worden? Und war das geschehen, bevor oder nachdem man ihm die Kehle durchschnitten hatte?

Mein Blick fiel erneut auf das Blut an meiner Hand, und ein Gedanke bohrte sich mir wie ein Holzpflock ins Hirn: Was, wenn die Soldaten des Bürgermeisters kämen und das Blut an meinen Fingern sähen? Würden sie nicht sogleich die falschen Schlüsse ziehen? Ich mußte die Hand so schnell wie möglich säubern.

Ich drängte mich an der verwirrten Maria vorbei, lief in mein Zimmer und tauchte die Hand in die Schüssel auf dem Tisch. Sofort zogen hellrote Schlieren durch das Wasser. Nachdem meine Finger sauber waren, nahm ich die Schüssel und kippte ihren Inhalt in eine Ecke des Zimmers. Das Wasser versickerte sogleich zwischen den Dielenbrettern.

Als ich mich umdrehte, stand Maria im Türrahmen und sah mich aus großen Augen an.

»Was tut Ihr da?« fragte sie erstaunt.

»Nichts«, entgegnete ich knapp, schloß die Tür direkt vor ihrer Nase und öffnete statt dessen die Fensterläden. Mit bangen Gedanken legte ich mich zurück ins Bett und sah zu, wie der Rauch davontrieb in die Nacht.

***

Schlaf fand ich keinen mehr in den Stunden, die folgten. Ein Scherge des Bürgermeisters klopfte kurz darauf an meiner Tür und stellte ein paar harmlose Fragen. Offenbar hatte niemand Verdacht geschöpft, ich könne mehr über Nikolaus’ Tod wissen, daher ließ man mir schon bald meine Ruhe. Wie es schien, gab es dringendere Verdächtige, denen man den Mord am Baumeister zutraute. Ich lag wach, bis der Morgen graute, den scharfen Geruch des Feuers in der Nase, den Kopf voll mit unheilvollen Rätseln. Wer hatte Meister Nikolaus getötet? Das Blut bewies, daß ich in der Tat in dem Zimmer gewesen war, bevor das Feuer ausbrach – doch nirgends war der Mörder zu sehen gewesen. Und hatte ich die Schritte hinter den Wänden wirklich gehört? Oder waren zumindest sie nur ein Traum gewesen?

Und die schlimmste aller Fragen: Verlor ich allmählich den Verstand?

Einmal blickte ich im Dunkeln auf und sah direkt in die eisigen Augen des Bronzeschädels. Er stand auf dem Tisch, das Gesicht in meine Richtung gewandt. Fast schien er auf etwas zu warten. Aber auf was? Daß ich ihn erneut um Hilfe bat?

Stunden später graute ein Morgen wie alle vorangegangenen über den Giebeln der Hütten, farblos und finster, eine matte Helligkeit hinter der schweren Wolkendecke. Ich war froh, das Haus verlassen zu können. Der Gestank von verbranntem Fleisch hatte sich in die Wände gekrallt, auch ich selbst roch danach. Ich wünschte mir ein Bad, doch dazu blieb keine Zeit. Es gab noch jemanden, den ich aufsuchen mußte, und nach den Geschehnissen der vergangenen Nacht war ich weit williger, an seine Existenz zu glauben.

Die mißtrauischen Blicke der Menschen in den Gassen folgten mir bei jedem meiner Schritte, ihr Argwohn war allgegenwärtig. Ich mußte mich damit abfinden, gewöhnen aber würde ich mich nie daran. Ich spürte, wie mir zahllose Augenpaare nachstarrten, wie immer wieder einzelne stehenblieben, mich beobachteten, mit anderen flüsterten. Es drängte mich, meine Wut herauszuschreien, sie anzubrüllen: »Welche Schuld habt ihr selbst auf euch geladen?« Doch ich zog den Kopf nur tiefer zwischen die Schultern und beeilte mich, die Stadt durchs Osttor zu verlassen.

Ich hätte die Strecke bis zum Kopfelberg zu Pferd zurücklegen können, doch laut Dantes Beschreibung waren die Wälder dicht und unwegsam, und der Rappe würde mir eher hinderlich als nützlich sein. So ging ich vorbei am Richtplatz an der Westflanke des Berges und verharrte einen Augenblick, um den schwarzen Holzblock zu betrachten, auf dem schon so manch Verurteilter sein Haupt hatte niederlegen müssen, in banger Erwartung des blitzenden Beils. Der Block thronte auf einer niedrigen Holzbühne. Der Boden war festgestampft von Generationen leidsüchtiger Zuschauer.

Der Hang stieg nicht allzu steil bergauf. Zu anderer Zeit, mit anderem Ziel hätte mein Weg einen feinen Spaziergang abgegeben; so aber war mir nicht wohl, als ich den Waldrand erreichte und mich seiner kühlen Umarmung ergab. Die hohen, schlanken Bäume vereinigten sich hoch über meinem Kopf zu einem grüngelben Dach. Säulengleich stützten die Baumstämme eine Kathedrale aus Laub. Eine schwere Stille verstärkte die ehrwürdige, fast sakrale Stimmung dieser Wälder. Es gab hier keinen Pfad, zumindest keinen, den ich fand, so daß ich mir selbst eine Schneise durch das wilde Gestrüpp bahnen mußte. Am Fuße der Buchen, Eichen und vereinzelten Fichten wucherten Haselsträucher und wilde Erdbeeren, dazwischen dürre Büsche mit langen, nadelspitzen Dornen und Unmengen tückischer Nesseln, deren Berührung feurige Stöße durch meine Fingerspitzen sandte. Der Grund war weich und federnd, und mir kam der unangenehme Gedanke, daß jeder meiner Schritte den Waldboden erzittern ließ, wie das Strampeln einer gefangenen Fliege im Spinnennetz. Plötzlich ahnte ich, nein, ich wußte, daß man mich erwarten würde.

Ich spürte, wie sich erneut ein merkwürdiges, längst bekanntes Gefühl des Unwirklichen meiner bemächtigte. Hatte ich mein finsteres Empfinden am Vortag auf die Wirkung des Honigweins geschoben, mußte dessen Rausch heute längst verflogen sein. Und doch war mir, als schwebte mein Geist außerhalb seiner Hülle, als sähe ich hilflos aus der Ferne, wie sich etwas um mich zusammenzog, eine überirdische, jenseitige Bedrohung. Meine Wahrnehmung hatte sich verschoben, mir war, als erkannte ich Dinge, die ich zuvor nie bemerkt hatte – und es war kein erfreulicher Einblick. Mir schien es, als sei ich mein Leben lang, ja als sei ein jeder von einer zweiten, gänzlich verschiedenen Wirklichkeit umgeben, die sich gelegentlich öffnete und einen Blick auf ihre geisterhaften Schrecken gewährte. Es war ein seltsamer Taumel, der mich erfaßte, und mir war, als könnte ich mich kaum mehr auf den Beinen halten.

Ich verspürte eine entsetzliche Einsamkeit, ein Gefühl jenseits schlichten Alleinseins, vielmehr eine Art kindliche Verlorenheit angesichts dieser Wälder, die sich weiter und weiter erstreckten, bis über den Gipfel hinweg, nur um sich dahinter mit einer noch ferneren, noch dunkleren Landschaft zu vereinen – ungenutzt, unbetreten, wild. Ich mußte mich setzen, einen Augenblick verschnaufen, und als ich saß, da glaubte ich, mich legen zu müssen. Ich lag da, ausgestreckt zwischen Dornenbusch und Nessel, starrte hinauf zu hohen Blätterkuppeln und spürte, wie sich mein Geist von neuem auf eine Reise begab.

Ich begann, meinen Kopf zur Seite zu rollen, erst zur einen, dann zur anderen, und dabei blickte ich mich um, sah die mächtigen Baumstämme aus einer gänzlich anderen Sicht als sonst. Ich wunderte mich über ihre häßliche Rinde und über Wurzeln, die den Armen und Beinen verschlungener Körper glichen. Sie waren obszöne Nachahmungen menschlichen Lebens, mit überlangen Gliedern und Fingern, mit schwarzer Borkenhaut und Schlünden, die sie als Astlöcher tarnten. Da waren Fratzen wie geschnitzte Holzmasken, mit kleinen tückischen Augen. War da nicht Leben in diesen Zügen, den schnaubenden Nüstern, den bebenden Lippen? Schoben sich ihre verdrehten Schenkel nicht umeinander wie ein Nest geschmeidiger Würmer?

Licht brach als heller Strahl durch den Laubhimmel und ergoß sich über Holz und Haut und Erde, bestrich alles mit einem prächtigen Glanz, so daß helle Funken auf den Zweigen tanzten wie die perlende Flut eines Wasserfalls.

Später stellte ich fest, daß ich lange, viel zu lange dagelegen hatte, gebannt von den furchtbaren Wundern des Waldes, umkrallt von einem Zustand, den ich nicht begriff und der mir entsetzliche Angst einflößte. Als mich eine knochige Hand den Visionen entriß, war es düster und ein weiterer Tag erfolglos vertan – dies wenigstens war mein erster Gedanke, das peinvolle Schuldbewußtsein, dem Auftrag meines Herzogs nicht gewachsen zu sein.

»Sieh da«, sagte eine Stimme, »der edle Herr weilt wieder unter den Lebenden.«

Ich schaute mich um und erblickte ein Gesicht, das sich kaum von jenen unterschied, die ich eben erst an den Bäumen entdeckt zu haben glaubte. Waren jene aber Gaukelbilder meiner Sinne gewesen, so hatte dieses hier etwas geradezu Überwirkliches, denn es beugte sich über mich, und eine gewisse Besorgnis sprach aus seinen Augen. Es war nur ein alter Mann, kein Waldschrat, wie es seine dunkle, gegerbte Haut vortäuschen mochte. Wangen und Stirn waren zerfurcht wie Baumrinde, doch wurden sie nicht von Moos und Flechten, vielmehr von einem wilden Bartgestrüpp umrahmt. Die Faltenringe um seine Augen verscheuchten jeden Gedanken, er könne auch nur ein Jahr jünger als uralt sein.

Sein dichtes Haupthaar ähnelte bedenklich dem Bart, denn es war ebenso ungepflegt. Um so überraschter war ich, als ich bemerkte, daß dagegen seine Zähne nicht nur weiß, sondern auch vollkommen ebenmäßig zwischen den ausgedörrten Lippen glänzten. Kaum einer, den ich kannte, angefangen bei den ganz jungen Knappen zu Hofe, hatte noch ein so makelloses Gebiß.

Ich wußte, ich hatte mein Ziel erreicht.

»Ihr seid der Einsiedler, nicht wahr?« fragte ich. »Der Nigromant vom Kopfelberg.«

Der Alte lachte, und es klang weder meckernd noch krächzend. »Johannes Hollbeck ist mein Name. Pfarrer Johannes Hollbeck.«

Ich setzte mich auf und deutete eine förmliche Verbeugung an. »Gepriesen sei Gott.«

Das schien ihn noch mehr zu belustigen. »Sagt Ihr das, weil ich ein Geistlicher bin, oder weil Euch der Schädel nicht mehr schmerzt? – Nein, haltet ein, Ihr braucht keine Antwort zu geben. Sagt mir lieber, wer Ihr seid.«

Das tat ich und erwähnte sogleich, daß ich von einem guten Freund erfahren hätte, daß er hier zu finden sei.

Der Alte lachte noch immer, ohne erkennbaren Grund.

»Macht Ihr Euch über mich lustig?« entfuhr es mir. Ich bereute die Frage noch im selben Atemzug. Offenbar hatte dieser Mann mich zurück in die Wirklichkeit geholt. Ein wenig Dankbarkeit war durchaus angebracht.

»Verzeiht mir«, bat er versöhnlicher. »Es kommt selten vor, daß sich ein Mensch hierher verirrt, und so neige ich dazu, jedes Quentchen Fröhlichkeit aus einem solchen Ereignis zu ziehen. Aber ich will Euch nicht beleidigen, keineswegs.«

»Ich bin es, der um Verzeihung bitten muß«, entgegnete ich beschämt. »Ihr habt mich –«

»Gerettet?« unterbrach er mich. »O nein, mein junger Freund. Ich habe Euch nur ein – zugegebenermaßen recht unangenehmes – Gebräu eingeflößt, dessen Rezeptur mir der Herr in einer Winternacht eingab. Es vertreibt böse Geister, Altersschwachsinn, die Folgen der Trunkenheit und Zahnfäule.« Er hielt einen Moment lang inne, dann fuhr er fort: »Aber sagt, der Freund, von dem Ihr spracht, war das der junge Florentiner?«

»In der Tat«, erwiderte ich und war dabei nicht ganz sicher, was von dem Alten zu halten war. Ich spürte, daß mein Kinn feucht war, und auch der widerlich bittere Geschmack in meinem Mund bezeugte, daß er mir tatsächlich etwas zu trinken gegeben hatte. Was immer es gewesen war, das mich vor Stunden befallen hatte, nun war es fort.

Ich sah mich um und bemerkte, daß wir uns in einer Senke im Wald befanden. Sie war annähernd rund und etwa zehn Schritte im Durchmesser, ganz so, als habe sie ein Riese mit einem gewaltigen Löffel ausgehoben. An einer Seite wurde diese Vertiefung von grauen Felsen begrenzt, zwischen denen ein schwarzer Spalt in Ungewisse Bergtiefen führte. Da ich mich nicht erinnern konnte, den Weg aus eigener Kraft gefunden zu haben – tatsächlich erinnerte ich mich an gar nichts –, mußte mich wohl der Alte hierher geschleppt haben. Sogleich besah ich mir verstohlen seinen Körper. Was unter seiner groben Kutte an Statur zu erahnen war, ließ auf eine einstmals kraftvolle Jugend schließen. Noch heute waren seine Schultern breit, die Arme muskulös. Ein Mann voller Widersprüche.

Er schien meine Blicke nicht zu bemerken und fragte unbekümmert: »Wenn Ihr ein Freund des Florentiners seid, so seid wohl auch Ihr auf der Suche nach den Kindern von Hameln?«

»Wißt Ihr etwas darüber?«

»Habt Ihr mich denn im Verdacht?« entgegnete er schmunzelnd.

»Ihr müßt verstehen, daß ich jeder Spur folgen muß.«

»Und die Spur, die Euch zu mir führte, ist der Bericht Eures Freundes?«

Ich nickte. »Er sprach von merkwürdigen Pflanzen, die –«

Sein schallendes Gelächter schnitt mir das Wort ab.

»Meine kleinen Lieblinge! Als hätte ich nicht geahnt, daß es ein Fehler war, den Florentiner laufen zu lassen.«

»Wie bitte?« entfuhr es mir erregt.

Er schüttelte immer noch lachend den Kopf und machte eine wegwerfende Geste mit der Rechten. »Nur ein Scherz«, sagte er, »nur ein Scherz. Aber ich dachte mir, daß er seinen Mund nicht würde halten können. Wißt Ihr, ich jagte ihm ein wenig Angst ein, in der Hoffnung, er würde seine Entdeckung für sich behalten. Doch wie ich sehe, war dies vergebens. Er weiß es, Ihr wißt es, und wahrscheinlich schon halb Hameln.«

»Seid versichert, daß niemand außer ihm und mir eingeweiht ist.«

»Die Bürger Hamelns mögen Euch nicht.«

»Nein, das tun sie wohl nicht«, gab ich zu. »Doch, um ehrlich zu sein, das beruht auf Gegenseitigkeit.«

»Aber Ihr stammt doch aus Hameln.«

»In der Tat. Doch woher wißt Ihr das?«

»Oh«, sagte er nur und zuckte mit den Schultern, ließ sich aber schließlich doch zu einer Erklärung herab: »Gelegentlich gehe ich hinunter in die Stadt, meist ins Kloster der Klarissen. Die ehrwürdigen Schwestern versorgen mich mit jenen Dingen, auf die ich hier oben sonst verzichten müßte. Ein wenig Obst, ein paar Krüge Milch, selten einen Schluck Wein – und natürlich die neuesten Gerüchte. Eure Ankunft in Hameln hat sich innerhalb kürzester Zeit herumgesprochen, edler Ritter, und es gibt keinen in der Stadt, der nicht Eure Vergangenheit kennt.«

Ich nickte bekümmert. »Das war zu erwarten. Es ist kein angenehmes Gefühl, wenn ein jeder alles über einen zu wissen scheint.«

Hollbeck schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, niemand weiß alles über einen anderen. Auch Ihr habt noch ein Geheimnis, nicht wahr?«

Die Worte trafen mich wie Insektenstiche, stechend, schmerzhaft. »Ich weiß nicht, was Ihr meint.«

»Sei’s drum«, sagte er gleichgültig. »Wollt Ihr nun meine Pflanzen sehen?«

Ich nickte, bemüht, mir meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Dabei hatte er mich sicher längst durchschaut.

»Folgt mir«, bat er und ging voraus zum Felsspalt.

»Dort hinein?« fragte ich verwundert.

Er nickte. »Hinein – und auf der anderen Seite wieder hinaus. Habt keine Furcht. Ich bin ein alter Mann, der wahrlich anderes im Sinn hat, als Euch in der Dunkelheit zu erschlagen.«

Ich schob meine Zweifel beiseite und trat hinter ihm durch den Höhleneingang. Wir mußten uns seitlich durch die Felsen zwängen, so eng standen sie beieinander. Gleich dahinter weitete sich der Hohlraum zu einer natürlichen Kammer im Berg. Es schien sich nicht um den Wohnraum des Alten zu handeln, denn es gab weder Liegestatt noch sonstige Einrichtung. Hollbeck nahm eine brennende Fackel auf, die in einem Loch in der Wand steckte, und durchquerte die Höhle. An ihrer Rückseite trat er durch eine weitere Öffnung in eine große unterirdische Halle, an deren Grund sich Wasser zu einem kleinen See gesammelt hatte. Wir stiegen eine Geröllhalde hinab, gingen am Ufer entlang und erklommen auf der anderen Seite einige Stufen, die irgend jemand, vermutlich der Alte selbst, in den Stein gehauen hatte. Immer wieder bemerkte ich dunkle Öffnungen im Fels, wo weitere Höhlen abzweigten und tiefer hinab in die Erde führten. Dante hatte recht gehabt: Es verbarg sich tatsächlich ein dunkles Labyrinth in diesem Berg, und wer mochte wissen, wohin es führte? Vielleicht hatte er mit seiner Vermutung doch noch ins Schwarze getroffen.

Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich den Gedanken so vertreiben, und schalt mich selbst einen Narren. Ich lenkte all meine Aufmerksamkeit auf Hollbecks Fackel – und das war bitter nötig, denn wir überquerten jetzt ein tückisches Feld aus losem Geröll. Der Alte wies mich an, gut auf jeden seiner Schritte zu achten, denn nur die Steine, auf die er seine Füße setzte, seien sicher.

So gelangten wir schließlich an einen Ausgang, durch den mattes Tageslicht in die Höhlen fiel. Hollbeck legte die Fackel beiseite, ließ die Flamme aber brennen. Gemeinsam traten wir ins Freie. Ich stellte ohne große Überraschung fest, daß sich an der Umgebung wenig verändert hatte. Wir befanden uns noch immer im Wald, nun offenbar auf der anderen Seite des Berges, und vor uns sah ich einen finsteren Tannenhain, zwischen dessen Stämmen nichts war als tiefste Schwärze. Es wunderte mich nicht, daß der Alte ausgerechnet diesen Weg einschlug und ohne Zögern in die schattige Dunkelheit tauchte. Sie währte nur wenige Schritte, dann erreichten wir eine Stelle, die durchaus als Lichtung gelten konnte, obgleich es auch hier noch schwerfiel, weiter als zwei, drei Schritte zu sehen. Der Boden senkte sich zu einer seichten Vertiefung, aus deren Mitte eine Reihe seltsamer Pflanzen mit breiten, ovalen Blättern sprossen. Für einen, der nicht in die Geheimnisse des Aberglaubens und der Magie eingeweiht war, hätte dies ein Haufen Unkraut, bestenfalls ein Gemüsebeet sein mögen. Ich aber schauderte beim Anblick der Alraunen.

Die Stimme des Nigromanten war plötzlich nah an meinem Ohr. In der Finsternis spürte ich seinen heißen Atem. »Es sind genau hundertdreißig«, flüsterte er, als könnte er die Pflanzen mit jedem Laut zum Leben erwecken. »Ich habe sie gesät, für jedes der verschwundenen Kinder eine Pflanze.«

Ich starrte immer noch wie gebannt hinab in die Senke. »Ist es wahr, ich meine, daß …«

»Daß sie zum Ebenbild eines Menschen heranwachsen?« flüsterte der Alte. »Natürlich. So sagen es die alten Schriftrollen und Zauberbücher unserer Väter. Wartet, ich will es Euch zeigen.«

Er ging im Dunkeln in die Knie und begann unendlich zärtlich, eine der Pflanzen auszugraben. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch als er sie schließlich triumphierend in die Höhe hielt, überkamen mich Ekel und Bewunderung zu gleichen Teilen.

Die Blätter der Alraune endeten in einer blaß schimmernden Wurzel, die entfernt an eine Rübe erinnerte – mit dem Unterschied, daß sie sich an ihrem unteren Ende zu zwei Beinen gabelte. Die Pflanze war noch weit davon entfernt, ausgewachsen zu sein – sie maß bislang kaum eine Handspanne –, doch war schon deutlich zu erkennen, was einmal zu Schenkeln und Oberkörper werden würde. Dort, wo sich bei einem Menschen die Schultern befanden, wuchsen leichte Beulen aus dem Wurzelfleisch. Irgendwann würden hier die Arme entspringen. Nie in meinem Leben habe ich einen grauenvolleren Anblick ertragen müssen. Kein Leichnam, kein Schlachtfeld hat mich mit solchem Entsetzen erfüllt wie diese Spottgeburt, halb Pflanze, halb Kind.

»Das … das ist Teufelswerk!« entfuhr es mir bebend. Meine Hand zuckte nach vorne, um dem Alten das widerliche Gebilde aus den Fingern zu schlagen, doch er kicherte nur, zog die Pflanze zurück und machte sich daran, sie an ihrem alten Platz einzugraben.

Ich wich fassungslos zurück, bis ich eine Berührung in meinem Rücken spürte. Keuchend fuhr ich herum und erkannte, daß es nur die Zweige einer Tanne waren. Wie aus Eisen geschmiedet stand ich da, reglos, stumm, und sah zu, wie Hollbeck sein furchtbares Werk beendete.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte ich stockend, nachdem er sich erhoben hatte.

»Später!« zischte er nur und trat an mir vorüber. Ich spürte, wie der rauhe Stoff seiner Kutte meine Hand streifte und erschrak von neuem. »Wir müssen erst fort von hier. Folgt mir – dann können wir reden.«

Das Grauen über den Anblick der Alraunen saß mir tief in den Knochen, so daß ich beinahe froh war, eine Weile Zeit zu haben, um mich zu sammeln. Hollbeck ging voran, und wortlos liefen wir auf demselben Weg durch die Höhlen zurück, den wir zuvor gekommen waren. Dunkelheit und Kälte schienen mir plötzlich viel bedrohlicher, jedes Tropfen, jedes Rollen eines Steins ließ mich zusammenfahren. Erst als wir auf der anderen Seite des Kopfelberges wieder ins Freie traten, brach der Einsiedler sein Schweigen.

»Habe ich Euch entsetzt, edler Ritter? Seid Ihr nicht hergekommen, um die Alraunen zu sehen? Oder habt Ihr vielleicht nicht recht an ihre Existenz glauben mögen?«

Er ließ sich am Boden der Senke nieder. Ich selbst war viel zu erregt, um ruhig sitzen zu können. So blieb ich stehen und begann nach einer Weile, auf und ab zu gehen. Sein Blick folgte mir bei jedem Schritt. Meine Aufregung schien ihn zu erheitern.

»Ihr macht Euch der Ketzerei schuldig«, sagte ich schließlich. »Was, denkt Ihr, soll ich nun tun?«

»Mir einen Augenblick zuhören«, erwiderte er ruhig.

»Ich wüßte nicht, was Ihr –«

Unwirsch fiel er mir ins Wort. »Hört mir zu, ich bitte Euch. Und dann fällt Euer Urteil.«

Ich schloß einen Moment lang die Augen und nickte schließlich. »So sprecht.«

Hollbecks Stimme klang trocken wie das Herbstlaub, das unter meinen Füßen knirschte. »Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch. Ich achte die Gesetze des Herrn seit meiner Geburt, daher erlaubt mir, Euch meine Geschichte zu erzählen. Habt keine Sorge, ich werde mich kurz fassen.« Er verstummte einige Herzschläge lang, dann fuhr er fort: »Im Jahre unseres Herren 1212 trug der Aufruf Innozenz’ III. zum Kreuzzug gegen die Heiden eine besondere Frucht. Im Rheinland und in Frankreich tauchten zwei halbwüchsige Jungen auf, Nikolaus und Stephan geheißen, die mit frommen Predigten Tausende von Kinder um sich scharten. Ihr Ziel war es, mit dieser Heerschar nach Palästina zu ziehen und das Heilige Grab mit friedlichen Mitteln zu befreien. Keine Schwerter sollten geschwungen, kein Blut vergossen werden! Unbewaffnete Kinder, in Körper und Geist von Unschuld erfüllt, sollten vollbringen, woran Könige und Kaiser gescheitert waren, allein durch die Reinheit ihrer Herzen. Anders als die Ritter der vorangegangenen Kreuzzüge würden sie nicht morden und brandschatzen, sich nicht an Frauen und Kindern versündigen. Nur ihnen, so glaubte man, konnte gelingen, woran ihre Väter und Vorfahren gescheitert waren. Denn wie hätte Gott dieser herrlichen Schar den Zugang zu den Heiligen Stätten verwehren können?«

Der Alte strich sich mit der Rechten über den Bart, räusperte sich und sprach dann weiter: »Ich war eines dieser Kinder, selbst erst neun Jahre alt, aber vom Geiste des Herrn erfüllt. Ich brannte darauf, Jerusalem und all die anderen Orte kennenzulernen, von denen ich soviel gehört hatte. Ich wollte sehen, wo der Heiland gewirkt hatte, wollte das heidnische Gezücht mit der Macht der Heiligen Schrift vertreiben. So wie ich dachten auch all die andere, Tausende und Abertausende. Wir pilgerten nach Süden, überquerten unter ersten Verlusten die großen Gebirge und erreichten die Hafenstädte Frankreichs und Italiens. Männer, die sich als Mönche ausgaben, erwarteten uns und führten uns auf große Schiffe. Betend und die christlichen Lieder singend zogen wir in unser Verderben – und ahnten es nicht einmal. Stürme und Wellen forderten weitere Leben, als ein Teil der Schiffe in die Meerestiefe gerissen wurde, doch wir anderen erreichten eine Küste. Bald aber begriffen wir, daß dies keineswegs das Gestade Palästinas war. Statt dessen hatte man uns in die schwarzen Küstenstädte verfrachtet, wo ganze Heerscharen von Sklavenhändlern bereits auf ihre Ware warteten. Auf uns!«

Atemlos lauschte ich seinen Worten. Ich hatte früher schon vom Kreuzzug der Kinder gehört, doch hatte ich stets angenommen, daß alle, die daran teilgenommen hatten, längst tot waren. Kaum einer war je zurückgekehrt, und so erstaunte es mich um so mehr, einem von ihnen hier in Hameln zu begegnen. Fast gegen meinen Willen zogen die Worte des Alten mich immer tiefer in ihren Bann.

Hollbeck fuhr fort: »Ich will Euer Herz nicht mit allen Abscheulichkeiten trüben, die wir über uns ergehen lassen mußten. Allen wurde Gewalt angetan. Jungen wie Mädchen wurden verschleppt, die meisten ermordet. Mir drohte das gleiche Schicksal, wäre mir nicht mit einer Handvoll anderer die Flucht geglückt. Man hatte uns weiter nach Süden gebracht, ehe wir uns befreien konnten, so daß uns nur ein einziger Rückweg offenstand: Wir mußten erneut durch die kochende Wüste, ungeschützt und mit wenigen Wasservorräten, Sonne, Hitze und Räubern hilflos ausgeliefert. Ich will das weitere kurz machen. Ich war der einzige, der überlebte und nach einer Reise, die viele Jahre währte, gelangte ich schließlich ins Heilige Land. Ein christliches Kloster, errichtet auf den Trümmern einer Heidenfestung, nahm mich auf, und dort war es, wo ich die Weihen zum Priester erhielt. Ich blieb dort für zwei, drei Jahrzehnte, verabschiedete mich dann von meinen Brüdern und zog lange Zeit als Prediger durch die Städte des Orients. Erst viel später, vor etwa zwanzig Jahren, reiste ich mit einer geschlagenen Ritterschar zurück in die Heimat. Vieles habe ich auf meinem Weg durch jene fernen Länder gelernt, vieles, das man hier als Hexerei bezeichnet, als Magie und – wie Ihr selbst es nanntet – Teufelswerk. Die Kirche verstieß mich, und so suchte ich die Einsamkeit, um mich in ihr ganz dem Glauben an Gott und der Vollbringung seiner Wunder hinzugeben.«

Nach diesen Worten versank er in brütendes Schweigen. Auch ich selbst brauchte eine Weile, bis ich mich dem Sog seiner Erzählung entreißen konnte. Schließlich blieb ich vor ihm stehen, sah ihn an und fragte: »Ihr seid sicherlich ein weiser Mann, Vater Johannes, einer, der mehr für seinen Glauben gelitten hat, als jeder andere, den ich kenne. Und doch – eine Antwort seid Ihr mir schuldig geblieben: Was hat es mit den Alraunen auf sich? Und in welcher Verbindung stehen sie zu den Hamelner Kindern?«

Er blickte auf, und in seinen Augen blitzten Tränen.

»Haltet Ihr mich für wahnsinnig, Ritter Robert? Weil ich alt bin und von Geheimnissen gekostet habe, die Ihr und Euresgleichen nie kennenlernen werdet? Glaubt Ihr wirklich, ich könnte mich an Kindern vergreifen, nach all dem, was ich erleben mußte?«

»Sagt mir, was Ihr mit den Alraunen bezweckt.«

Er atmete tief ein. »Wenn Ihr eine Möglichkeit wüßtet, den Müttern dieser Stadt ihre Kinder zurückzugeben, würdet Ihr sie dann nicht ebenfalls nutzen?«

»Meint Ihr damit, Ihr wollt mit Hilfe Eurer … Eurer Lehren diese Kinder neu erschaffen?« rief ich atemlos. »Großer Gott, ist es das, was Ihr vorhabt?«

Sein Kopf fiel schwer vornüber. »Wenn es mir gelingt – ja!«

Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. In jenem Moment muß es ausgesehen haben, als sei ich der Wahnsinnige, nicht er. Der Alte wollte in der Tat eine neue Generation von Kindern züchten. Aus Pflanzen!

»Ich weiß nicht, ob es mir gelingen wird«, fuhr er leise fort. »Keiner, den ich kenne, hat je ein Alraunenwesen getroffen, geschweige denn geschaffen. Und doch muß es einen Weg geben, das Unrecht, das in Hameln geschehen ist, rückgängig zu machen.«

Ich faßte mich unter Mühen und fragte: »Von welchem Unrecht sprecht Ihr? Wißt Ihr, was mit den Kindern geschah?«

Eine Weile lang erwiderte er starr meinen Blick. Die dunkle Glut seiner Augen schien sich in meine Gedanken zu bohren wie ein Brandeisen. Für einen Moment schien es mir, als wäre ich dem Geheimnis nie näher gewesen, doch als er schließlich sprach, waren seine Worte eine herbe Enttäuschung: »Ich weiß es nicht«, sagte er müde. »Ich weiß nicht einmal, wer es weiß. Viele müssen die Lösung des Rätsels kennen, doch keiner bricht sein Schweigen. Nicht die Mütter, nicht die Väter, niemand. Ich versuche nur, den Schaden, der angerichtet wurde, gutzumachen, nicht die Schuldigen zu richten. Das obliegt allein Euch, edler Ritter.«

Der Alte mußte den Verstand verloren haben. Sein Vorhaben, die Alraunen zu Kindern heranwachsen zu lassen, mochte gelingen oder scheitern – jemand würde sich später darum kümmern müssen. Es war nicht meine Aufgabe, einen alten, wirren Mann zu richten. Und ich war froh darüber.

Doch eine letzte Frage beschäftigte mich schon eine ganze Weile, und ich mochte ihn nicht verlassen, bevor ich sie ausgesprochen hatte: »Ihr sagtet, daß Ihr oft ins Klarissenkloster geht. Habt Ihr je eine Schwester Julia getroffen?«

Er überlegte einen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Ich habe meist mit der Äbtissin zu tun, öfter noch mit den Stallknechten. Das Schweigegelübde verbietet es den Schwestern, mit mir zu sprechen, und ich bringe sie nicht in Versuchung.«

»Dann habt Ihr nie von Julia gehört?«

»Niemals. Was bedeutet sie Euch?«

Ich seufzte. »Nichts, gar nichts. Habt trotzdem Dank, Vater Johannes. Ich werde niemandem von dem berichten, was ich hier oben gesehen habe. Doch seid versichert, falls die Kinder je wieder auftauchen und sich erweisen sollte, daß sie nicht jene sind, die verschwanden, sondern Eure Alraunengeschöpfe, wird die Welt davon erfahren.«

Er senkte den Blick. »Was ist Schlimmes daran, diesen Müttern und Vätern helfen zu wollen? Ist es nicht das, was auch Ihr wollt? Wer von uns beiden ist näher bei Gott – jener, der bestraft, oder jener, der erschafft?«

Ich hob die Schultern. »Gott vollbringt beides, Vater.«

»Ja, gewiß«, entgegnete er. »Aber liegt es nicht in der Hand eines jeden, zu strafen? Jeder Mensch kann Leben nehmen. Doch wer kann schon neues geben?«

»Seid Ihr denn sicher, daß Ihr das vermögt?«

Seine Stimme war jetzt so leise, daß ich sie kaum zu verstehen vermochte. »Wir werden sehen, Ritter Robert. Wir werden sehen.« Damit sank er in sich zusammen wie eine welke Blume und sagte kein weiteres Wort mehr.

Ich wandte mich schweigend um, stieg über den Kamm der Bodensenke und lief so schnell ich konnte talwärts.

Einmal glaubte ich zwischen den Bäumen eine Gestalt zu erkennen. Eine Frau in schwarzen Gewändern, das Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verborgen. Wie ein Geist tauchte sie zwischen den Stämmen auf und war im selben Augenblick wieder verschunden. Als ich die Stelle erreichte, war da niemand, nur ein verkohlter Baumstumpf mit annähernd menschlicher Form, verbrannt von einem Blitzschlag.

  

  

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KAPITEL 5

Von jener Stunde an, in der ich erneut meine Kammer in der Herberge betrat, wurden die Tagträume schlimmer. Ich fragte mich, was Wirklichkeit, was Wahnsinn war. Mir war, als öffnete sich um meinen Verstand eine Reihe von Türen, durch die Dunkelheit in meine Gedanken wehte wie ein eisiger Frostwind. Es fällt mir schwer, einen Vergleich zu finden, für das, was geschah. Beinahe schien mir die Welt wie ein Spiegelbild im Wasser eines Tümpels, das ein leichter Lufthauch erzittern läßt. Alles war noch deutlich zu erkennen – die Häuser, die Menschen, die Stadt –, und doch war es, als verfälsche sich ihr Bild auf geheimnisvolle Weise, als gerate die Oberfläche der Dinge in Wallung wie die Spiegelung auf dem Wasser.

Ich fühlte den zwingenden Drang, meine Hände vor die Augen und Ohren zu schlagen, nur noch in mich hineinzuhorchen, die Schwärze meiner Lider zu erforschen und die Welt dorthin zu sperren, wohin sie gehörte – nach außen.

Es war in jenen wirren Stunden, als der Bronzekopf begann, mir Antwort auf meine Fragen zu geben.

Ich entdeckte an seiner Unterseite eine verborgene Klappe, die auf einen festen Druck mit dem Daumen aufsprang. Darin befand sich ein winziges Metallrad. Seine Kante war gezahnt, so daß es sich ohne Schwierigkeiten mehrfach bis zum Anschlag drehen ließ. Gleichzeitig drang aus dem Inneren des Schädels ein merkwürdiger Laut, der sich fortan in kurzen Abständen wiederholte. Ich kann es nur mit dem Hämmern eines Spechts am Baumstamm vergleichen, nur leiser, aus größerer Ferne, ein leises Ticken im Rhythmus meines Herzschlags. Da ahnte ich, daß der Bronzekopf zum Leben erwachte.

»Hilf mir, zu verstehen«, bat ich und setzte ihn vor mir auf das Bett. Ich selbst hatte am Kopfende Platz genommen. Der Gestank nach verbranntem Fleisch hing in den Wänden. Es würde Wochen dauern, ihn zu vertreiben.

Bebten die Lippen des Schädels? Blinzelte ein Auge?

»Hilf mir, zu verstehen«, sagte ich noch einmal.

Ich weiß nicht, ob sich sein Mund wirklich öffnete. Damals glaubte ich, eine leichte Regung zu erkennen, doch als ich meinen Finger auf die Bronze legte, war sie so hart und kalt wie Stein.

Trotzdem sagte der Kopf: »Die Seele vermag nur zu erkennen, was sie bereits in sich trägt. Suche das Prinzip in deinem Inneren.«

»Das habe ich«, erwiderte ich ohne Scheu. »Doch da ist nichts als Leere.«

»Wenn das die Wahrheit ist«, erklang die tiefe Stimme des Bronzeschädels, »dann wirst du die Antworten, nach denen du suchst, niemals erfahren.«

»Was soll ich tun?«

»Das Licht der menschlichen Vernunft reicht zur Erkenntnis der ganzen Wahrheit nicht aus. Die Mittel zur Lösung liegen längst in dir selbst. Du weißt, was du wissen mußt. Ziehe deine Schlüsse. Suche das Prinzip in der ratio.«

»Vielleicht bin ich nicht bereit dazu. Vielleicht übersteigt all das meine Fähigkeiten.«

»Die Möglichkeiten eines jeden Denkenden sind allen gemeinsam. Es gibt keinen Unterschied. Aus dem, was gegeben ist, müssen sich die Antworten entwickeln. Die Materie bestimmt das Ziel.«

Ich schüttelte stumm den Kopf.

Der Bronzeschädel fuhr fort, als hätte er die Bewegung bemerkt: »Geh hin und erkenne die Wirklichkeit. Denn die Aufgabe des Erkennens ist allein die Auffassung des Wirklichen, um mit seiner Hilfe zur wahren Erkenntnis fortzuschreiten.«

Danach schwieg er. Nur das Ticken setzte sich fort, hallte in der stillen Kammer wieder, die meinem eigenen Kopf immer ähnlicher wurde. Ein Rückzug in trügerische Sicherheit.

Ich legte mich im Bett zurück, verschränkte die Hände am Hinterkopf und blickte hinauf zur Decke. Die Schatten hatten sie längst in ihrem Griff. Ich ließ meinen Blick über die Wände schweifen und verharrt schließlich auf dem Kruzifix. Es war in der Finsternis kaum mehr zu sehen. Täuschte ich mich, oder wanderten die Schatten tatsächlich von Tag zu Tag ein Stück weiter? Wie zäher, schwarzer Sirup schienen sie ganz langsam an den Wänden herabzufließen, so träge, daß die Bewegung mit den Augen nicht zu erkennen war. Und doch war mir, als seien sie mir mit jedem Mal, da ich darauf achtete, ein wenig näher gekommen. Eine undurchdringliche, hungrige Lichtlosigkeit, die alles auf ihrem Weg verschlang.

Ich erhob mich, stieg mit den Füßen auf das Bett und griff zögernd nach dem Kruzifix. Ich hatte Angst, mit meinem Kopf in die oberen Schattenregionen der Kammer vorzustoßen, und hielt das Gesicht deshalb leicht vornübergebeugt. Ich sah nicht hin, als ich das Kreuz mit den Fingern umschloß und vom Nagel hob. Geschwind ließ ich mich auf die Bettkante sinken und öffnete die Faust, um das Kruzifix näher zu betrachten.

Ich warf einen ersten Blick darauf – und schleuderte es augenblicklich von mir! Entsetzt und voller Widerwillen starrte ich auf meine Hand. Finger und Handteller waren dort, wo sie das Kreuz berührt hatten, schwarz verfärbt. Als hätte der Schatten in der Tat Gestalt angenommen und sich als ekelhafter Belag um das Kruzifix gelegt. Von Panik ergriffen sprang ich auf, stürzte mit zwei Sätzen zur gegenüberliegenden, helleren Seite der Kammer und sah noch einmal dort hinauf, wo die Schatten sich zusammenballten wie Sturmwolken.

Der Bronzekopf tickte beständig vor sich hin. Klang das Geräusch jetzt nicht lauter? War es nicht durchdringender als zuvor? Ich verfluchte bereits, daß ich das geheime Rad je berührt hatte.

Wo das Kruzifix gehangen hatte, war ein heller Umriß an der sonst so dunklen Wand zurückgeblieben. Ich zweifelte nicht, daß auch er sich binnen Stunden schließen würde. Die Schatten beanspruchten für sich, was ihres war. Mit bebenden Knien sprang ich zum Fenster und stieß die Läden auf. Die trübe Abenddämmerung floß herein, konnte allerdings nur den unteren Teil der Kammer erhellen. Decke und Wände erschienen dadurch nur noch dunkler.

Ich hob noch einmal die schwarzgefärbte Hand vor Augen und zerrieb den Belag zwischen Daumen und Zeigefinger. Er fühlte sich fettig an und hinterließ abscheuliche Schmierspuren. Unter aller Überwindung hielt ich mir die Finger an die Nase und roch daran. Es war kein unbekannter Geruch, keineswegs; es roch nach Feuer, nach Rauch und nach den verkohlten Überresten des Baumeisters. Es war Ruß. Nichts als Ruß. Ich bebte vor Erleichterung.

Maria mußte Boden und Einrichtung des Zimmers während meiner Abwesenheit gesäubert haben. Doch eine Reinigung der oberen Wände und des Kruzifix hatte sie wohl nicht für nötig erachtet. Mir war ob dieser Entdeckung nicht nach Jubel zumute. Ich spürte, wie die Geheimnisse dieser Stadt meinen Geist zermürbten. Ich sah Dinge, wo keine waren, hörte Laute, die keiner sonst vernahm.

Das Ticken des Bronzekopfes. Es schien mir nun laut wie Donnergrollen. Unerträglich.

Langsam, immer noch ein wenig zögernd, ging ich auf das Kruzifix zu, das achtlos am Boden lag. Ich bückte mich, hob es auf. Betrachtete es eingehend. Der Ruß hatte sich in die Öffnungen und Ritzen des holzgeschnitzten Heilands gelegt. Seine Augenhöhlen waren schwarze Flecken, ebenso der Mund. Es sah aus, als säße ein Totenschädel auf seinen knochigen Schultern.

Ich ging mit dem Kreuz zum Tisch und tauchte es in die Wasserschüssel. Der Ruß löste sich nicht. Fettig klebte er am Holz wie eine zweite Haut, wie gestaltgewordener Schatten.

Meine Finger zitterten, als ich das Kruzifix, beschmutzt wie es war, auf dem Tisch ablegte. Dann ergriff ich mit beiden Händen den Bronzekopf. Er machte nun keinerlei Anstalten mehr, zu mir zu sprechen. Nur das Ticken blieb. Ich hielt ihn ganz nah ans Ohr, lauschte in sein Inneres. Tief in ihm vernahm ich ein leises Surren und Schaben, als bewege sich etwas in seinem Bronzehirn. Etwas, das darin eingeschlossen war. Die Vorstellung eines großen, schwarzen Käfers, der mit dürren Fühlern am Gehäuse seiner Metallzelle kratzte, stieß sich tief in mein Denken. Angewidert stellte ich den Kopf neben Kreuz und Schüssel auf den Tisch, trat dann hastig einen Schritt zurück.

Das Ticken ging weiter. Immer weiter. Das Geräusch brachte mich um den Verstand. Ich preßte meine Hände auf die Ohren, um den Laut auszusperren. Zwecklos. Er war längst auch in meinem eigenen Schädel.

Ich tat das einzige, was mir in dieser Lage richtig erschien. Ich floh. Raus aus der Kammer, hinaus auf den Flur, hinunter in die Gaststube.

Niemand war da, nur Maria. Sie sah mich kommen und machte einen Schritt zur Seite. Sie hatte mehrere Schüsseln mit Fleisch und Gemüse auf einem der Tische aufgetragen.

»Herr«, sagte sie, »soeben wollte ich Euch rufen.«

Mir war nicht nach Essen zumute, und auch nicht nach Maria. Ich wollte Ruhe, endlich Ruhe. Und doch brachte ich es nicht über mich, die Speisen, die Maria mit sichtbarer Mühe zusammengestellt hatte, abzulehnen. Selbst dazu war ich zu schwach.

So nahm ich Platz, dankte ihr flüchtig und begann, zu essen. Eine Weile lang sah sie mir schweigend zu und trat dabei nervös von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht lag ihr ein neuer Liebesschwur auf den Lippen, daher war ich froh, als sie sich schließlich wortlos umdrehte und in der Küche verschwand.

In einer Schüssel waren Erbsen aufgehäuft, in einer anderen gekochte Apfelstücke. In der dritten fand ich wunderbar zartes Fleisch, hell und schon zerkleinert, so daß ich es mit dem großen Holzlöffel essen konnte. Das Mädchen meinte es gut mit mir.

Ich bemerkte den seltsamen Geschmack im Mund, als ich bereits mehr als die Hälfte von allem gegessen hatte. Es war, als sei zwischen die Erbsen ein Stück Eisen geraten, doch als ich tastend mit der Zunge durch den Mund fuhr, fand ich nichts dergleichen. Auch das Fleisch war stark durchgebraten, unmöglich, daß es noch nach Blut schmeckte. Doch der eigenartige Geschmack blieb. Ich begann nun, aus jeder Schüssel einzeln zu kosten, um die Ursache herauszufinden. Die Erbsen waren vorzüglich, ebenso das Fleisch.

Doch dann biß ich eines der Apfelstücke zur Hälfte durch und blickte hinein. Zäher, brauner Schleim quoll mir daraus entgegen, eine ekelerregende Füllung, deren Geruch allein mich würgen ließ. Keuchend erbrach ich mich in die Fleischschüssel und fegte zugleich die beiden anderen vom Tisch. Scheppernd prallten sie auf, ihr Inhalt ergoß sich über den Boden. Es war Blut, das aus den Äpfeln quoll, ohne Zweifel. Dunkelbraunes, eingedicktes Blut.

War das der Irrsinn? Waren dies seine Boten? Geräusche, die einen quälen, und Blut, das aus Äpfeln fließt?

Ich schrie auf, voller Verzweiflung und Wut, sprang von der Bank und stieß dabei den Tisch um. Der Lärm mußte bis hinaus auf die Gasse zu hören gewesen sein. Maria eilte aufgeregt herbei, doch ich bemerkte sie erst, als sie meinen Arm packte.

»Herr, wie ist Euch?« rief sie, und sogleich standen Tränen in ihren Augen.

Tobend trat ich gegen eine der Schüsseln, daß sie bis zur anderen Seite der Schankstube flog und beim Aufprall an der Wand zerbrach. Ich griff grob nach Maria, zerrte sie zu Boden und ging neben ihr in die Knie. Wie von tausend Teufeln besessen packte ich eine Handvoll der Apfelstücke und hielt sie ihr vor das schöne Gesicht. Dann preßte ich die Faust zusammen. Ströme von Blut quollen zwischen den Fingern hervor.

»Sag mir, daß auch du es siehst!« schrie ich verzweifelt. »Sag mir, daß ich nicht wahnsinnig bin! Das ist Blut, oder?«

Sie senkte den Blick. Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde es abstreiten, doch das tat sie nicht. Statt dessen flüsterte sie leise:

»Ja, Herr, ich sehe es.«

»Du siehst es?« rief ich beinahe erstaunt. Wie konnte sie es sehen, wenn es nur meiner Einbildung entsprang?

»Ja, Herr«, wiederholte sie schüchtern. »Bitte, verzeiht mir.«

Ihre Worte trafen mich unerwartet. »Dir verzeihen, Maria? Warum?«

Sie riß ihren Arm los, den ich noch immer umklammert hatte, und taumelte auf Knien zwei Schritte zurück. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie weinte bitterlich. »Es ist mein Blut, Herr«, brachte sie schluchzend hervor. »Ich selbst habe es in die Äpfel gegeben.«

»Dein Blut?« Ich begriff noch immer nicht.

»Ein Zauber«, erklärte sie und schüttelte zugleich den Kopf, daß ihre langen Haare in alle Richtungen wirbelten. »Nur ein Zauber. Um Eure Liebe zu gewinnen, Herr. Die Frau sammelt das Blut, das ihrem Körper entfließt, und gibt es dem Mann ins Essen. Der größte aller Liebeszauber, so heißt es.«

Ein bitterer Sud schoß erneut aus meinem Magen hinauf in den Mund. Noch einmal spie ich stinkendes Sekret auf den Boden. Wie von Sinnen stemmte ich mich auf die Beine und stützte mich kraftlos auf eine Tischkante.

»Verzeiht mir«, heulte Maria noch einmal, doch ich hörte es kaum. Ohne sie weiter zu beachten, blind vor Ekel und Abscheu, torkelte ich an ihr vorüber zur Treppe, die Stufen hinauf und in meine Kammer. Ich stürzte mich auf die Wasserschüssel, spülte den Mund aus und spuckte das Wasser aus dem Fenster, immer und immer wieder, bis die Schüssel leer war. Schließlich sank ich entkräftet aufs Bett. Mein Körper glühte vor Hitze, doch der Schweiß, der meine Kleidung tränkte, war eisig. Fieber! fuhr es mir durch den Kopf. Ich habe Fieber.

Ich lag da und versank in Träumen voller Unheil. Gelegentlich riß mich das Ticken des Bronzeschädels aus dem Schlaf, die Laute stachen wie Nadeln tief in mein Hirn. Mir war, als schlüge selbst mein Herz im furchtbaren Takt, den der Schädel ihm vorgab. Als richte sich meine ganze Existenz nach seinem Maß.

Einmal erwachte ich und tastete in der Dunkelheit nach Altheas Hasenpfote an meinem Oberarm. Ja, sie war noch da. Ein Geschenk, in Liebe gegeben. Es würde mich vor dem Schlimmsten bewahren.

Doch es schützte mich nicht vor weiterem Grauen, das sich im Schlaf in meinen Schädel schlich, Bilder von der Leiche des Baumeisters und viele bange Fragen: Wie konnte das Blut an meine Hand gelangen, wenn ich nicht wirklich in seiner Kammer gewesen war? Und wer hatte ihn ermordet, wenn ich der einzige war, der das Zimmer betreten hatte? Wandelte ich im Schlaf? Mordete ich im Schlaf?

Ich spürte, wie das Fieber meinen ganzen Körper erhitzte. Meine Stirn und meine Glieder glühten. Trotzdem raffte ich mich auf, schleppte mich hinab in die nächtliche Küche und fand nach einigem Suchen eine Schale voll Mehl. Damit stieg ich wieder hinauf in mein Zimmer und bestreute zwischen Tür und Bett den Boden mit einer hauchdünnen Schicht. Am Morgen würde ich an möglichen Fußabdrücken erkennen können, ob ich durchs Zimmer gewandert war, ohne dabei zu erwachen.

Die bescheidene Vorsichtsmaßnahme schenkte mir ein wenig Ruhe, und ich schlief von neuem ein. Einmal war mir, als weckte mich eine seltsame Erscheinung vor meinem Bett. Es war der Tod, in Gestalt einer schwarzverschleierten Frau. Sie stand vollkommen reglos da, gleich neben mir, und blickte auf mich herab. Ihr Gesicht lag hinter dem dunklen Schleier verborgen. Es heißt, der Tod komme nachts, um einen zu besuchen, im Schlaf, wenn man ihm so nah ist wie niemals sonst. Er starrt einen aus seinen schwarzen Augen an, stundenlang, doch wenn man erwacht, dann ist er fort. So war es auch in jener Nacht.

Die Morgendämmerung brachte mich ein wenig zur Besinnung, obgleich ich spürte, daß das Fieber noch in jedem Winkel meines Körpers wütete. Man mag sich mein Entsetzen vorstellen, als mein erster Blick gleich auf Fußspuren im Mehl fiel. Sie führten von meinem Bett zur Tür und wieder zurück. Die Tür war geöffnet worden, denn auch ihr Schwung zeichnete sich in der weißen Schicht ab. Das bedeutete, ich war draußen gewesen, zumindest auf dem Flur.

Dann aber erinnerte ich mich an die Erscheinung. Was, wenn wirklich eine Frau in der Kammer gewesen war? Konnten es nicht ihre Fußabdrücke sein? Ich schenkte dem Hämmern in meinem Kopf keine Beachtung und bückte mich, um die Spuren einer genaueren Betrachtung zu unterziehen. Ebenso gut wie vom Bett zur Tür und zurück konnten sie in umgekehrter Reihenfolge entstanden sein – jemand war hereingekommen, an mein Bett getreten und schließlich wieder fortgegangen. Das hauchdünne Mehl war an jenen Stellen auseinandergeweht, wo die Füße aufgetreten waren, so daß Länge und Breite des Abdrucks nicht mehr klar zu erkennen waren. Es hätten zarte Frauenfüße, aber auch meine eigenen gewesen sein können. Was mich allerdings in Erstaunen versetzte: Zehen und Ballen waren noch zu erkennen. Wäre aber eine nächtliche Besucherin barfuß gekommen? Vielleicht – wenn sie etwas ganz Bestimmtes im Sinn gehabt hätte. Maria war in diesem Fall eine naheliegende Verdächtige. Doch hätte sie das gewagt, nach dem Vorfall vom Abend? Und außerdem: Wäre sie verschleiert, in einem schwarzen Kleid über meine Schwelle getreten? Nein, Maria konnte es nicht gewesen sein. Und der einzige, der in dieser Kammer barfuß lief, war ich. Es gab nur diese eine Möglichkeit: Das Fieber hatte mir die Vision einer schwarzen Frau vorgekaukelt. Und wer mochte mir solche Wahnbilder verübeln, nachdem in dieser Sache immer mehr Weibsbilder an Bedeutung gewannen: Julia, Juliane, Margarete Gruelhot, Maria, Liutbirg, sogar die knöcherne Frau des Hufschmieds, Imma. Was aber die Fußabdrücke anging, so war ich in der Tat selbst aus dem Zimmer geschritten. Doch war ich deshalb ein Mörder? Der Gedanke schien so unbegreiflich, so fern aller Wirklichkeit, daß ich mich nicht damit befassen mochte. Natürlich hatte ich den Baumeister nicht ermordet.

Trotz meiner schlechten Verfassung beschloß ich, mich noch einmal zum Klarissenkloster zu begeben. Das Tageslicht half mir, meine Furcht im Zaum zu halten. Ich schwitzte, mir war heiß, jeder Blick schien mir wie durch Nebel verschleiert. Und doch gelang es mir, aufrecht auf die Straße zu treten und mich auf den Weg zum Kloster zu machen.

Am Ende einer Gasse entdeckte ich ein Kind. Der kleine, humpelnde Junge fiel mir wieder ein, doch dies hier war ein Mädchen mit schmutzigem blondem Haar. Die Kleine begann, kreischend zu lachen, als sie mich sah. Schaum stand vor ihrem Mund, sie wies mit der rechten Hand in meine Richtung. Dann fuhr sie plötzlich herum und rannte fort. Sie hatte einen verwirrten Geist, ohne Zweifel, doch sie war auch ungemein flink, und schon nach wenigen Schritten gab ich die Verfolgung auf. In meinen Ohren toste ein Sturm, und mein Kopf fühlte sich an, als müßte er platzen. Der kühle Regen tat wohl auf meiner fiebrigen Haut, und doch wußte ich, daß die Nässe meine Krankheit nur noch schlimmer machte. Ich verschwendete keine Zeit mehr darauf, im Labyrinth der engen Gassen nach dem Kind zu suchen. Nachdenklich eilte ich auf dem schnellsten Weg zum Kloster.

Zu meinem Erstaunen ließ man mich widerspruchslos ein und führte mich zur Äbtissin. Waldrada empfing mich im selben Raum wie bei meinem ersten Besuch, und auch an ihren schwarzen Gewändern hatte sich nichts geändert. Ihr faltiges Gesicht, umrahmt von Kleid und Haube, schien zu leuchten wie eine Münze auf einem dunklen Samtkissen. Mir war, als wäre seit meiner letzten Audienz kaum Zeit verflossen.

»Ich weiß, was Ihr wünscht«, sprach sie, bevor ich etwas sagen konnte. Ihre Stimme klang so trocken und brüchig, daß ich fürchtete, die Worte könnten auf ihrem Weg durch den Raum zu Staub zerfallen. »Ihr wißt, ich kann es Euch nicht gestatten.«

»Ich muß noch einmal mit Schwester Julia sprechen«, entgegnete ich bestimmt.

»Die Schwester hat ein Gelübde abgelegt. Ich habe sie bereits einmal vorzeitig davon entbunden, um Euch behilflich zu sein. Diesmal wird es keine Ausnahme geben.«

»Ihr versteht mich nicht«, widersprach ich. »Ich muß mit ihr reden.«

Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich zu finsteren Schluchten. »Falsch, Ritter, Ihr versteht mich nicht. Schwester Julia hat ihr Schweigen vor Gott geschworen. Vor Gott! Niemand darf sich dem entgegenstellen.«

»Ich –« begann ich, doch im selben Augenblick überkam mich ein solches Schwindelgefühl, daß ich beinahe zusammenbrach. Ich taumelte einen Schritt vorwärts und suchte Halt an der Kante von Waldradas Tisch.

»Ihr seid krank«, stellte sie ohne jedes Mitgefühl fest. »Ihr solltet etwas dagegen tun.«

Schwerfällig gelang es mir, den Kopf zu schütteln. Ich versuchte zu sprechen, doch kein Wort drang über meine Lippen. Der Schwindel machte keinerlei Anstalten, sich zu legen. Die Kammer schien sich um mich zu drehen, Waldradas Gesicht wurde immer mehr zu einem weißen Fleck in der Dunkelheit. Es schwebte vor mir wie ein Gespenst, ein Irrlicht in stockfinsterer Nacht.

Ich hörte, wie Waldrada einen Namen rief, dann ergriffen mich von hinten sanfte Hände und führten mich aus dem Raum. Widerstandslos ließ ich es geschehen, unfähig, mich zu wehren oder nur einen Einwand zu erheben. Eine Weile lang wurde mir gänzlich schwarz vor Augen, und als sich meine Sicht wieder klärte, fand ich mich in einer düsteren Kammer ohne Fenster, hingestreckt auf eine Liege. Ein Kerker! schrie es in mir, doch ein zweiter Blick zerstörte die Illusion meiner Gefangenschaft. Die Tür der Kammer stand weit offen.

Im selben Moment betraten zwei Klarissenschwestern in weißer Tracht den Raum. Die eine bot mir wortlos eine Schale mit dampfendem Kräutersud an. Ich trank einen Schluck und sagte dann: »Ich will aufstehen. Ich fühle mich wohl.« Das war eine Lüge.

Die jüngere der beiden Schwestern schüttelte entschieden den Kopf, sagte aber kein Wort. Das Gelübde verbot ihnen zu sprechen, selbst mit einem Kranken. Es war gespenstisch, wie sie in ihren langen weißen Gewändern dastanden und mich stumm betrachteten. Ihr Anblick erinnerte mich allzu sehr an die Todesvision der vergangenen Nacht. Die verschleierte Frau hatte mich ebenso angesehen – schweigend, reglos, unheimlich.

»Ich muß jetzt gehen«, sagte ich und machte Anstalten, mich von der Liege zu erheben.

Eine schmale, helle Hand legte sich geschwind auf meine Schulter und drückte mich sanft zurück. Es war nicht mehr als eine Geste, ihre Kraft hätte kaum ausgereicht, mich festzuhalten. Und doch hielt ich inne und sah die Schwester an. Sie war nicht hübsch, besaß aber wunderschöne, ungemein blaue Augen. Die Tatsache, daß sie nahezu das einzige waren, was unter der weiten Schwesternkluft von der jungen Frau zu erkennen war, vervielfachte ihre betörende Wirkung.

»Ich möchte Schwester Julia sehen«, bat ich.

Ein drittes Kopfschütteln. Kein Wort.

Da konnte ich ihre stummen Blicke nicht länger ertragen, achtete nicht weiter auf ihren stillen Protest und stand auf. Meine Beine waren schwach, mein ganzer Körper schien zu beben, doch es gelang mir, mich auf den Füßen zu halten. Ich trug noch all meine Kleidung am Körper, so daß es nichts gab, das mich hier länger hätte halten können. Eilig schritt ich an den beiden Schwestern vorüber und trat hinaus auf einen steinernen Flur. Die Kammer, in der ich gelegen hatte, befand sich unweit des Hauptportals.

Ehe ich das Gebäude verließ, warf ich noch einen Blick zurück zu den beiden Schwestern. Sie standen kerzengerade nebeneinander, die gefalteten Hände in den weiten Ärmeln ihrer Gewänder verborgen. Zwei blasse Geister, hinter denen die Mauern im Schatten ertranken. Schweigend und reglos starrten sie mir nach.

Ich löste mich von ihrem schaurigen Anblick und trat hinaus ins Freie. Doch als ich das große Tor durchqueren wollte, spürte ich den Blick eines weiteren Augenpaares im Rücken. Julia, durchzuckte es mich. Ich fuhr herum.

Doch es war nicht Julia. Es war die Äbtissin. Waldrada stand halb verborgen im Dunkel eines Fensters, ein schwarzer Schemen vor noch tieferer Finsternis. Sie schien mir nachzusehen, als ich ging, und ihr Blick war kalt wie die Berührung einer Toten.

Erst später begriff ich, daß nicht ich es war, den sie beobachtete. Sie blickte über mich und über die Stadt hinweg zum Kopfelberg, und ihre Augen maßen seine bucklige Masse wie ein Heerführer die feindlichen Horden.

***

Der Bronzekopf empfing mich mit tickendem Getöse. Ich hätte schwören mögen, daß die Geräusche abermals lauter geworden waren, lauter, immer lauter, und nun schien mir auch das Schaben und Surren in seinem Inneren deutlicher vernehmbar. Plötzlich überkam mich die Gewißheit, daß der Kopf mich in den Wahnsinn treiben würde, wenn ich dem Ticken nicht sogleich ein Ende setzte. Ich hob ihn mit beiden Händen vom Tisch und schüttelte ihn, bis meine Arme schmerzten. Die Laute blieben gleich, ja, nun schien es mir gar, als steigere sich das Spektakel zu hämischen Höhen, als erfreue sich der Schädel an meiner Pein. Kühl und schwer lag er zwischen meinen Händen. Der gestrenge Ausdruck seiner Züge änderte sich nicht, und doch war mir, als leuchte da ein spöttisches Funkeln in seinen Augen. Einbildung? Wirklichkeit? Die Begriffe verschoben sich von Mal zu Mal, überlagerten sich, zogen wieder auseinander. Was immer mit mir geschah, es veränderte auch die Umgebung. Oder war auch das nur ein Trugbild in meinem Kopf?

Ich schleuderte den Schädel von mir. Polternd krachte er zu Boden und rollte unters Bett.

»Warum tust du mir das an?« erklang seine Stimme dumpf aus den Schatten.

Ich entschied, die Worte zu überhören. Nicht länger sollten Hirngespinste mein Tun bestimmen.

Der Schädel ließ sich nicht beirren. »Du solltest dir hier unten etwas ansehen«, fügte er hinzu.

Ich beachtete ihn nicht, und so schwieg er schließlich.

Geraume Zeit später mußte ich mir eingestehen, daß ich meine Neugier nicht länger im Zaum zu halten vermochte. Ich ging vorm Bett in die Knie und beugte mein Gesicht herunter, bis ich mit einem Ohr am Boden lag. Der Schädel schimmerte matt im Dunkel und starrte mir in die Augen. Er sagt kein Wort. Er tickte.

Maria hatte das Mehl vom Boden gefegt, doch hier unten lagen noch einige Reste, vermischt mit Staub und Schmutz. Es war so dunkel unter dem Bett, daß ich kaum bis zur rückwärtigen Wand sehen konnte. Ich packte den Schädel, zog ihn hervor und legte ihn achtlos auf die Liege. Er sprach noch immer nicht. Ohne mir weitere Gedanken über ihn zu machen, blickte ich angestrengt in die Schatten. Was hatte der verfluchte Kopf gemeint, als er sagte, ich müsse mir etwas ansehen?

Ich entdeckte es erst, als ich die Suche schon fast aufgegeben hatte. Es war ein kleiner brauner Lederbeutel, so groß wie meine Hand und ebenso flach. Er war rundherum zugenäht und mit einem Nagel unter das Bett geschlagen worden. Dort hing er, stocksteif, und niemand hätte ihn je bemerkt, wäre nicht der Bronzekopf darauf gestoßen.

Ich griff danach, mußte aber feststellen, daß der Nagel tief im Holz saß und sich mit bloßer Hand nicht lösen ließ. Also holte ich meinen Dolch herbei und begann, damit den Nagel hervorzuhebeln. Schließlich hielt ich den Lederbeutel in der Hand. Er fühlte sich hart an, war aber achtlos verarbeitet, denn die Nähte an seinen Rändern waren grob und in weiten Abständen angebracht, als habe jemand sein Werk in höchster Eile verrichten müssen. Ich wog ihn unentschlossen in der Hand, roch daran – und sogleich überkam mich Abscheu. Was immer sich in dem Beutel befinden mochte, es stank entsetzlich.

Ich stand auf, legte den Beutel auf den Tisch und begann dann, mit der Dolchspitze die Nähte zu lösen. Ganz langsam, eine nach der anderen. Der Faden war straff gespannt und schnellte jedesmal mit einem dumpfen Laut auseinander, wenn ich ihn zerschnitt. Schließlich war es vollbracht, und ich klappte die obere Hälfte des Beutels mit dem Dolch nach hinten. Da endlich sah ich, was sich in seinem Inneren befand.

In der Mitte lagen zwei winzige Kadaver, von jungen Mäusen oder Ratten. Die kleinen Körper waren längst blättriger Fäulnis anheimgefallen, doch es war deutlich zu erkennen, daß sie miteinander verwachsen waren. Mißgeburten, die sogleich nach dem Wurf gestorben waren. Es gab ein Wort dafür, und nach einigem Grübeln fiel es mir ein: Rattenkönig. Zwei neugeborene Ratten, von der Natur aneinandergeschmiedet, kaum lebensfähig, weil sie stets mit dem anderen verbunden sind.

Ich erinnerte mich, wie ein Stallknecht am Hofe des Herzogs ein solches Paar im Stroh entdeckt hatte, lebendig und leise wimmernd. Der alte Mann war ehrfürchtig davor zurückgewichen. »Ein Rattenkönig«, hatte er geflüstert, mit starrem Gesicht und fahler Haut, »da liegt ein Rattenkönig.« Damals hatte ich gelacht – wohl um meinen Ekel zu überspielen –, doch der Alte warnte mich: »Es gibt Rattenkönige auch unter uns Menschen, Männer und Frauen, die so eng mit ihrem Schicksal verbunden sind, daß sie sich nie davon zu lösen vermögen und schließlich daran zu Grunde gehen.« Daraufhin hatte ich die wimmernde Spottgeburt voller Abscheu unter meinem Stiefel zertreten.

All das sprang mir beim Anblick der schwarzen Kadaver wieder ins Gedächtnis. Gänsehaut kroch über meine Arme.

Doch der Rattenkönig war nicht das einzige, was sich in dem Beutel befand. Seine Überreste vermischten sich mit einer spröden, übel riechenden Masse; ich hatte keinen Zweifel, daß es sich um menschliche Ausscheidungen handelte. Darüber hatte man helles Pulver gestreut, zweifellos ein Gift. Ein Rätsel gab mir allein der fingerlange Holzspan auf, der sich unter den anderen entsetzlichen Zutaten befand. Doch auch seine Herkunft blieb mir nicht lange verborgen: Es war der Splitter eines Galgens oder Richtblocks, nichts lag in diesem Falle näher. Je mehr Menschen ihr Leben daran verloren hatten, desto stärker die böse Zauberkraft des Spans. Denn diese war fraglos allem Inhalt des Beutels gemeinsam: Jedes Teil diente übler Hexerei. Man wollte mich mit einem Fluch belegen, und wenn ich die Träume und Visionen der vergangenen Tage bedachte, so schien dies längst gelungen.

Mit dieser Erkenntnis überkam mich solches Grauen, solche Furcht, daß ich glaubte, mein Körper sei zu Eis geworden. Ich war ein Mann des Glaubens, christlich bis ins Mark, doch gab es zweifellos auch in mir eine Furcht, die stärker war, als jene vor Gott: die Angst vor der Macht der Schwarzen Magie.

Ist es nicht eigenartig, wie berechenbar wir Menschen sind? Wie leicht zu verunsichern? Hätte der Zauber einem anderen gegolten, so hätte ich gelacht, ihn keinesfalls für ernst genommen. Doch nun, wo er mich selbst verhexte, war ich von seiner teuflischen Kraft überzeugt.

Panik regierte mein Denken und Handeln. Ich holte aus, um den Beutel samt seines Inhalts vom Tisch zu fegen. Im letzten Moment gelang es mir, die Bewegung aufzuhalten. Es lag nichts Gutes darin, die Zutaten des Zaubers im ganzen Zimmer zu verstreuen. Und zugleich mit dieser Einsicht bemächtigte sich meiner ein unerhörter Zorn. Denn ich ahnte, wem ich den Zauber zu verdanken hatte.

Wie besessen (und war ich das nicht in der Tat?) hastete ich hinaus auf den Gang. Schrie Marias Namen. Einmal, zweimal. Immer wieder. Schritte polterten auf der Treppe, als die fette Wirtin heraufstürmte.

»Edler Herr, was ist geschehen? Wie –«

Ich ließ sie nicht ausreden. Keine Zeit für ihr Gestammel.

»Maria!« brüllte ich erneut. »Wo ist das Weib?«

»Unten, Herr«, entgegnete die Alte angstvoll. »Aber was –«

Ich drängte sie zur Seite und eilte die Stufen hinunter. Maria stand im leeren Schankraum, die Augen weit aufgerissen, Schultern und Körper zusammengesunken wie ein Gehängter am Galgen. Das weiße Tuch, mit dem sie die Tische abgewischt hatte, war ihr vor Angst aus der Hand gefallen. Es lag vor ihren Füßen wie eine tote Taube mit gespreizten Flügeln.

»Du!« entfuhr es mir. Ich stürmte auf sie zu und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie stolperte zur Seite, brach in die Knie und schlug dabei mit dem Kopf auf die Tischkante. Plötzlich war Blut auf ihrem Gesicht.

Sie sagte kein Wort. Weinte nicht einmal. Hockte einfach nur da, blutend und verstört. Aus ihren großen braunen Augen blickte sie zu mir auf.

»Was habe ich Euch getan, Herr?« fragte sie mit bebender Stimme.

»Was du mir getan hast?« schrie ich. »Du bist des Teufels, Weib. Des Teufels!« Hinter mir hörte ich die Schritte der Wirtin, doch sie wagte nicht, einzugreifen.

»Ich habe den Boden gewischt und das Bett gemacht« flüsterte sie. »Ich goß frisches Wasser in Eure Schüssel und «

»Wasser!« brüllte ich spöttisch. »Du brachtest mir Wasser, in der Tat – und einen Fluch.«

»Einen Fluch, Herr?«

Ich wollte sie erneut schlagen, doch trotz all meiner Wut krallte sich Mitleid um mein Herz. Sie hockte da wie ein Hund, der nicht begriff, was er angerichtet hatte. Das Blut legte ein eigentümliches Muster auf ihre Züge, wie fremdartige Schriftzeichen. »Willst du verleugnen, daß du den Beutel unter mein Bett genagelt hast?«

Sie legte den Kopf leicht schräg. Der Vorwurf traf sie unerwartet. »Einen Beutel, Herr?«

»Ja, verdammt!«

»Ich weiß nichts von einem Beutel.«

»Verstell dich nur, Hexe. Doch ich warne dich: Diesmal bist du zu weit gegangen.«

»Herr, ich verstehe Euch nicht. Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.« Nun traten doch noch Tränen in ihre wunderschönen Augen. Ich kämpfte gegen mein Mitgefühl an. Es fiel mir nicht schwer.

»Streitest du ab, dich der Zauberei schuldig gemacht zu haben?« fragte ich laut.

»Edler Herr«, meldete sich da erstmals die Wirtin zu Wort. »Habt Erbarmen. Nicht den Scheiterhaufen für das Kind. Wer soll mir dann zur Hand gehen?«

Ich beachtete sie nicht. »Streitest du deine Schuld ab?« fragte ich noch einmal.

Maria senkte ihren Blick und schüttelte den Kopf.

Blut hatte ihr Haar verklebt. »Ihr wißt, daß ich versuchte, Euch mit Liebeszaubern zu betören.« Plötzlich aber ruckte ihr Gesicht in die Höhe, und Wut sprach aus ihrem Blick. »Ich habe dies nie abgestritten, denn ich liebe Euch, mein Ritter. Doch von einem Beutel weiß ich nichts!«

Die Heftigkeit ihrer Worte und der feste Klang, der plötzlich in ihrer Stimme lag, trafen mich unvorbereitet. Leiser Zweifel schlich sich in mein Wissen um ihre Schuld, eben noch unerschütterlich, jetzt plötzlich wankend.

»Ich glaube dir kein Wort«, stieß ich hervor.

»Nun«, entgegnete sie fest, »dann laßt es eben.« Damit zog sie sich am Tisch in die Höhe. Noch immer machte sie keine Anstalten, das Blut aus ihrem Gesicht zu wischen. Sie stand da, kraftlos auf den Tisch gestützt, mit Trauer und Wut in den Augen. Die Wunde an ihrer Schläfe mußte schmerzen, und ihr schien heftig zu schwindeln. Da erst begriff ich, was ich getan hatte. Nie zuvor war ich einer Frau mit Gewalt begegnet, erst recht keinem jungen Mädchen wie Maria. Einem Kind, das keinen Hehl daraus machte, was es für mich empfand.

War meine Grausamkeit eine Folge des Fluchs? Und falls ja – mochte dann nicht auch der Mord am Baumeister hier seine Wurzeln haben? Im Hexenbeutel unter meinem Bett – und längst auch im Inneren meines Schädels?

Plötzlich wußte ich, was zu tun war.

Ich fuhr herum, ließ Maria stehen, eilte an der verwirrten Alten vorüber und sprang die Treppe hinauf. In meiner Kammer verriegelte ich von innen die Tür, ergriff mein Bündel und kippte seinen Inhalt aufs Bett. Neben einem zweiten Dolch befanden sich darin ein gefaltetes Wappen meines Herzogs, Handschuhe mit Eisenbesatz, Feuersteine und meine Bibel, die man mir beim Ritterschlag überreicht hatte. Sie war überaus wertvoll, von Kopisten eines herzoglichen Klosters hergestellt und in reichverziertes Leder gebunden. Nur wenige nannten einen solchen Schatz ihr eigen.

Jedoch, was ich in diesem Augenblick suchte, war keines der genannten Dinge. Was ich benötigte, befand sich in einer Handvoll kleiner Metallgefäße, unzerbrechlich und mit Wachs verschlossen. In einem bewahrte ich Weihwasser, in einem anderen Weihrauch. Ein drittes, viertes und fünftes war gefüllt mit anderen geweihten Substanzen. Es gibt Worte, sie zu beschreiben, Geruch, Geschmack und Aussehen festzuhalten, doch nichts davon wird ihrem wahren, ihrem heiligen Wert gerecht.

Bis zur ersten Weihe hatte man mich vieles gelehrt, das sich nun, so hoffte ich verzweifelt, als hilfreich erweisen würde. Es galt, den Fluch von mir zu heben, und ich will nicht vorenthalten, daß der Versuch mich fast das Leben kostete.

Es ist ungemein schwierig, eine Teufelsaustreibung an einem anderen zu vollbringen – sie aber an sich selbst vorzunehmen, bedeutet unausweichlichen Untergang.

Heute weiß ich das. Damals nicht.

***

Das beruhigende Gefühl von absolutem Schmerz umgab mich wie eine träge, warme Flüssigkeit. Beruhigend, weil es mir sagte, daß ich lebte. Auf meiner entblößten Brust saß der Rattenkönig und fraß sich schmatzend in mein Fleisch. Ich sah ihm eine Weile zu, erst aufmerksam, allmählich gelangweilt. Er tat nur das eine: Er fraß und fraß und fraß. Mit beiden Mäulern. Abscheulich – und schmerzhaft.

Jemand schlug mir ins Gesicht, und ich öffnete die Augen. Der Rattenkönig war verschwunden. Nur die Wunde blieb, wenngleich sie nicht aussah, als hätten Zähne sie geschlagen. Ihre Ränder waren schwarz und schorfig. Sie hatte die Form eines Kruzifix. Der Schmerz wurde jetzt unerträglich.

Ich schrie auf, und wieder klatschte mir eine Hand ins Gesicht, noch einmal, bis meine Schreie verstummten. Irrsinnig vor Pein, wohl aber schweigend, blickte ich in ein Gesicht, das sich über mich beugte. Dahinter befand sich ein zweites, verschwommen wie durch Nebelschleier. Niemand sprach.

Das hintere Gesicht, soviel erkannte ich nun, gehörte Maria. Sorge floß wie Tränen aus ihren herrlichen Augen. Und dann setzten sich auch die Teile der anderen Gestalt vor meinem Auge zusammen.

»Er wird leben«, sagte Hollbeck, obgleich mir nicht klar war, ob er mit mir oder Maria sprach. Die Züge des alten Einsiedlers schienen aus solcher Nähe betrachtet noch faltiger, ein Irrgarten aus zerklüfteten Graten und Schluchten. Wieder erstaunten mich seine weißen Zähne – als gäbe es nichts Wichtigeres.

Ich wollte sprechen, doch meine Kiefer gehorchten mir nicht. Sie lösten sich kein Haarbreit voneinander.

Die kreuzförmige Wunde auf meiner Brust schien in Flammen zu stehen. Ich begriff, daß dies der Wahrheit äußerst nahe kam. Da war Feuer in meiner Erinnerung, Feuer auf meiner Brust. Ich selbst hatte es entzündet.

Der Alte sagte noch etwas, doch ich hörte die Worte kaum. Statt dessen drang etwas anderes an meine Ohren. Ein leiser, rhythmischer Laut. Das Ticken des Bronzeschädels. Ich versuchte vergeblich, den Kopf in seine Richtung zu drehen. Erneut verlor ich das Bewußtsein, doch war mir, als begleiteten mich die Geräusche des Schädels auf meiner Reise durch die Dunkelheit.

Als ich erneut erwachte, hatte sich wenig an dem Bild geändert, das sich meinen müden Augen bot. Der Einsiedler blickte noch immer mit zerfurchter Stirn auf mich herab, Maria stand hinter ihm. Wahrscheinlich war ich nur für wenige Herzschläge ohne Besinnung gewesen.

»Sorge dafür, daß er wach bleibt«, sagte Hollbeck zu Maria. Er selbst wandte sich ab und verschwand, während das Mädchen seine Stelle einnahm. Sanft glitt ihre Hand über meine Stirn.

»Was habt Ihr nur getan, mein Ritter?« fragte sie leise.

Ich öffnete stockend den Mund. Diesmal gelang es mir, Worte zu formen. »Sag du es mir«, flüsterte ich schwach.

Sie schüttelte den Kopf. »Später.«

»Nein«, brachte ich krächzend hervor, »bitte!«

Maria zögerte noch einen Moment, dann gab sie nach. »Wir fanden Euch am Boden, ohne Eure Kleidung.« Hierbei senkte sie schamvoll den Blick – als ob meine Nacktheit in dieser Lage von Bedeutung wäre.

»Ihr hattet das Kruzifix, das einst an der Wand hing, auf Eure Brust gelegt und angezündet. Dabei schriet Ihr die Verse eines langen Gebetes, das ich nie zuvor gehört hatte. In der Wasserschale brannte Weihrauch, und um Euch herum am Boden hattet ihr mit verschiedenen Pulvern Zeichen geformt. Runenzauber.«

Ich erinnerte mich wieder. Allerdings hatten die Zeichen mit Runen nichts gemein; vielmehr waren es Buchstaben aus dem Hebräischen. Das Gebet freilich konnte Maria in der Tat nicht kennen. Nur der Teufelsaustreiber weiß um seine wahre Macht.

»Bin ich schwer verletzt?« fragte ich stockend.

Sie schüttelte den Kopf. »Vater Johannes sagt, er sei gerade noch rechtzeitig hergekommen. Er weiß, was Ihr vorhattet. Nachdem wir Euch fanden, bin ich gleich hoch zum Wald geritten und habe ihn gerufen. Ohne ihn wärt Ihr wohl tot.«

»Du kennst ihn gut?«

»O ja. Er hat uns schon oft bei Krankheiten beigestanden. Er kennt gute Mittel gegen alles.«

»War er es, der dir die Liebeszauber verriet?«

Maria sah beschämt zu Boden. »Ja, Herr. Aber Ihr müßt mir glauben, mit jenem Beutel, von dem Ihr spracht, habe ich nichts zu tun.«

Ich nickte, denn ich zweifelte nicht mehr an ihren Worten. »Hast du den Beutel gesehen?«

»Nein, Herr. Wo ist er?«

Ich wies zum Tisch. »Er muß noch dort liegen.«

Maria blickte hinüber und musterte mich dann zweifelnd. »Dort liegt nichts, mein Herr. Nur der Kopf aus Eisen. Er gefällt mir nicht, er ist so –«

»Er ist fort?« fiel ich ihr erregt ins Wort. Mühsam hob ich den Oberkörper und schaute gleichfalls zum Tisch. Maria hatte recht, dort war nichts außer Schüssel und Schädel. Der Beutel und sein abscheulicher Inhalt waren verschwunden.

»Hat ihn jemand genommen?« fragte ich erregt.

»Dort lag nichts«, erwiderte sie und verfiel sogleich in den Tonfall einer Verteidigung.

Ich gemahnte mich selbst zur Ruhe, um das Mädchen nicht von neuem zu erschrecken. »Schon gut«, sagte ich sanft. »Es ist nicht wichtig. Vielleicht habe ich ihn verbrannt. Oder fortgeworfen.«

Hollbeck, der das Zimmer für einen Moment verlassen hatte, trat wieder ein. Er betrachtete mich ernst. »Ihr seid ein Dummkopf«, sagte er.

»Vater Johannes!« entfuhr es Maria erschrocken.

Ich griff besänftigend nach ihrer Hand. »Laß ihn, er hat recht.«

Aus den Augen des Alten sprach blanker Zorn. »Ihr solltet Euch nicht an Dingen versuchen, die Ihr nicht versteht, Ritter. Ihr seid kein Geistlicher, mögt Ihr auch eine Tonsur tragen. Nicht einmal ich selbst würde mich an eine Austreibung wagen. Nicht einmal ich«, wiederholte er lauter.

Ich bemühte mich, zu lächeln. Es schien zu einer Grimasse des Schmerzes zu geraten, denn Maria packte meine Hand fester. »Das glaube ich Euch nicht«, sagte ich. »Wollt Ihr mir wirklich erzählen, Ihr habt Euch nie an Teufelsspuk versucht, Vater Johannes?«

Er tat meine Worte mit einem Kopfschütteln ab. »Und wenn, wäre es nun nicht von Bedeutung.«

Ich sah ihn fest an. »Ich muß den Dämon in meinem Inneren bezwingen, Vater.«

»Euer Dämon ist nicht mit den Mitteln der Kirche zu bekämpfen«, entgegnete er vage, griff dann in seine Kutte und zog ein Fläschchen hervor. »Ich werde Eure Wunde hiermit bestreichen. Danach wird der Schmerz nachlassen, doch es kann lange dauern, bis sie verheilt. Ihr werdet eine Narbe zurückbehalten.«

Ich wußte, warum er dies erwähnte: Die Narbe würde die Form eines Kreuzes haben.

»Ihr solltet Hameln verlassen«, fügte er hinzu. »Eure Verletzung macht die Aufgabe, die Ihr Euch gestellt habt, nicht leichter. Man flüstert in den Gassen über Euch.«

»Unmöglich«, erwiderte ich. »Der Herzog kommt in wenigen Tagen hierher. Es ist meine Pflicht, seine Mission zu erfüllen.«

»Weshalb überlaßt Ihr das nicht seinem Statthalter, dem Graf von Schwalenberg?«

»Wollt Ihr mich verhöhnen, Vater? Schwalenberg ist ein Narr. Ich bin sicher, das wißt Ihr selbst.«

Statt einer Antwort sagte er: »Wie Ihr wünscht, edler Ritter. Ich an Eurer Stelle würde über diese Entscheidung nachdenken.«

»Wollt nun auch Ihr mir drohen, wie all die anderen?« fuhr ich auf.

Er schüttelte betrübt den Kopf. »Wenn Ihr das wirklich glaubt, so seid Ihr tatsächlich der Falsche für Eure Aufgabe. Denkt nach, bevor Ihr redet, Ritter. Vielleicht wird vieles Euch dann leichter fallen.«

Er beschämte mich. Eben erst hatte er mir das Leben gerettet. Vielleicht hatte er recht.

»Was habt Ihr gemeint, als Ihr sagtet, den Dämon in mir könne man nicht mit den Mitteln der Kirche bezwingen?« fragte ich.

»Ihr seid nicht vom Teufel besessen.«

»Was macht Euch da so sicher?«

Er lachte leise. »Ich habe Menschen gesehen, die unter den Bann der höllischen Mächte gerieten, Verhexte, Verteufelte, Verfluchte. Doch glaubt mir, wenn es etwas in Eurem Inneren gibt, das Euch quält, so ist es keine überirdische Macht.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

Er öffnete die kleine Flasche und strich eine klare Flüssigkeit auf meine Wunde. Sie kühlte ein wenig, doch der Schmerz blieb. »Ich fürchte, daß Ihr krank seid, Ritter. Vielleicht ernster, als Ihr glaubt.«

»Ihr glaubt … krank im Geiste?« fragte ich matt.

Maria ließ meine Hand los und trat einen Schritt zurück, als hätte sie Angst, sich anzustecken.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte der Alte. Es klang ehrlich.

Bilder traten vor meine Augen, Szenen aus meinen Träumen und aus der Wirklichkeit. Und immer wieder die Leiche des Baumeisters. Das Blut an meinen Händen.

Ich schwieg. Was hätte ich auch sagen können?

Maria warf mir ein letztes scheues Lächeln zu, dann verließ sie die Kammer. Ich hörte, wie ihre Schritte vor der Tür verhielten. Sie wartete auf den Alten.

»Wenn Ihr wollt, könnt Ihr nun ein wenig schlafen«, sagte Hollbeck.

Ich schüttelte langsam den Kopf. »Wie könnte ich schlafen, nach dem, was Ihr mir gesagt habt. Wann kann ich aufstehen?«

»Wann Ihr mögt«, erwiderte er beinahe gleichgültig. »Ihr müßt selbst am besten wissen, was gut für Euch ist. Wenn Ihr den Schmerz ertragt, steht auf. Oder ruht aus, bis es Euch besser geht. Ich bin nicht hier, Euch Vorschriften zu machen.«

Er wollte gehen, doch ich hielt ihn zurück. »Wann, glaubt Ihr, werde ich wieder gesund sein – wirklich gesund?«

Der Alte sah mich an. Der Blick seiner Augen wirkte müde. »Wenn ich wüßte, wie krank Ihr tatsächlich seid, könnte ich Euch vielleicht eine Antwort geben. Aber so – nein, ich weiß es nicht. Ich habe Euch meinen Ratschlag gegeben. Kehrt zurück nach Braunschweig, laßt Euch von den Ärzten des Herzogs kurieren.«

Damit wandte er sich um und verließ die Kammer. Die Tür wurde zugezogen, ich war allein. Mit dem Schmerz, mit meiner Angst.

***

Es war spät in der Nacht, als das Schreien begann. Mag sein, daß ich wach lag, mag sein, daß ich schlief; sicher ist, daß mich ein Heulen wie dieses selbst aus tiefstem Schlaf gerissen hätte. Es war ein Laut voller Menschlichkeit und Trauer, ein peinvoller Singsang, der anhob und absank wie die Brust eines Sterbenden. Er klang nach Grauen und Verlust, nach Wahn und schwindender Erinnerung.

Das Schreien kam von draußen, von der Gasse oder aus einem der angrenzenden Häuser. Ehe ich mich versah, saß ich aufrecht im Bett, schwang die Beine über die Kante. Der Schmerz war noch da, aber die Medizin des Einsiedlers unterdrückte ihn. Das dumpfe Pochen in meiner Brust fühlte sich an, als sei mir ein zweites Herz gewachsen. Vielleicht hatte ich eines nötig.

Ich stand auf und brauchte eine Weile, ehe ich schwankend auf beiden Füßen Halt fand. Vorsichtig machte ich einige Schritt vorwärts und bemerkt zu meinem Erstaunen, daß es besser ging als erwartet.

Nackt trat ich ans Fenster und stieß die Läden auf. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Hameln war die Wolkendecke aufgerissen, und der Mond hing wie ein blindes Auge in der Schwärze des Himmels. Sein Licht floß als silbriger Schimmer über die Giebel und Dächer, doch immer noch schien es, als seien die Schatten stärker als der Mondenschein. Dunkelheit kauerte in jedem Winkel wie ein schlafendes Tier.

Die Schreie verstummten für einen Augenblick, nur um gleich darauf von neuem zu beginnen – noch lauter, noch verzweifelter. Überall erschienen nun fahle Gesichter in den Fenstern, hier und da flackerte eine Kerze auf. Unten in der Gasse erwachten die Schatten aus ihrem Schlaf, als die ersten Menschen aus den Häusern liefen und zum Quell des Gejammers eilten. Ich reckte mich weit über die Fensterkante hinaus, wie eine Galionsfigur am Bug eines Seglers, und wollte sehen, wohin sie liefen. Schon nach wenigen Schritten bogen die Männer und Frauen nach rechts und verschwanden hinter der Ecke des Gasthofs. Die Schreie mußten aus einem Haus an seiner Rückseite kommen. Ungeachtet meiner Verletzung und des erbärmlichen Zustands, in dem ich mich befand, beschloß ich, der Sache nachzugehen.

Ich zog mir die Kleidung über, eine langwierige, äußerst mühsame Prozedur, verbunden mit neuerlichem Schmerz. Meine größte Sorge war, daß die Wunde abermals aufbrechen würde, doch das verbrannte Fleisch näßte nur ein wenig. Hollbecks Tinktur verdankte ich, daß mir vor Pein nicht die Sinne schwanden. Im Hintergrund tickte der Schädel. Ich schenkte ihm keine Beachtung.

Benommen trat ich hinaus auf den Flur und öffnete die Hintertür, die zur Treppe an der Rückseite des Hauses führte. Sogleich schlugen mir Lärm und das Flackern von Fackeln entgegen. Rund ein Dutzend Gestalten stand vor einer ärmlichen Hütte. Ich kannte sie, ich wußte, wer dort lebte.

Ich beschleunigte meine Schritte, stieg geschwind die knarrende Holztreppe hinab. Das Licht der Fackeln badete mich in Helligkeit. Blutspritzer waren auf meiner Kleidung. Ich entdeckte sie, als ich den Fuß der Treppe erreichte und vorsichtig an mir herabsah, um nicht über die unterste Stufe zu stolpern. Blut auf meiner Hose und auf meinem Wams. Zahllose kleine Tropfen, kaum zu sehen. Hatte ich mich während der mißlungenen Austreibung nicht nur verbrannt, sondern auch geschnitten? Ich hatte keine weiteren Wunden an meinem Körper bemerkt. Ein seltsames Gefühl beschlich mich, ähnlich, wie ich es im Zimmer des toten Baumeisters gespürt hatte. Da waren Unsicherheit und Zweifel. Zweifel an mir selbst.

Die Menschen vor der erleuchteten Hütte wandten mir die Rücken zu. Kurz bevor ich sie erreichte, änderte ich meinen Entschluß. So schnell ich es vermochte und dabei so unauffällig wie möglich, lief ich zurück zum Haus, die Treppe hinauf, in meine Kammer. Dort griff ich nach Dantes Mantel und warf ihn mir über die Schultern. Niemand durfte das Blut auf meinen Kleidern sehen.

Erneut stieg ich hinab und ging hinüber zur Hütte. Die Leute machten bereitwillig Platz, als sie meiner gewahr wurden. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, ging ich durch ihre Mitte und trat durch die offene Tür der Hütte. Die Hitze blakender Fackeln schlug mir entgegen, als ich den engen Innenraum betrat. Der Boden war aus festgestampftem Lehm, die Einrichtung schlicht. Sechs Menschen standen zur Rückseite der Hütte gewandt und verdeckten mit ihren Körpern, auf was sie herabblickten. Das Heulen war verstummt, und zwei schluchzende Frauen hielten sich gegenseitig im Arm. Eine von ihnen mußte die Schreie ausgestoßen haben. Die übrigen waren Männer. Einer bemerkte mich und stieß sogleich die anderen an. »Seht!« flüsterte er ihnen zu. Alle drehten sich zu mir um.

Ihre Augen lagen im Dunkeln, doch ich ahnte das Mißtrauen und die Ablehnung, die aus ihren Blicken sprachen. Feindseligkeit hing in der Luft, schlimmer als an den Tagen zuvor. Noch immer konnte ich nicht sehen, was hinter ihnen am Boden lag, nur an der Wand nahm ich ein riesiges Muster wahr. Die hohen, schwarzen Schatten der Männer verbargen seine Form. Es war unmöglich, zu erkennen, was es darstellen sollte.

»Tretet zur Seite!« befahl ich. Das Beben in meiner Stimme war kaum zu überhören.

Sie gehorchten nur zögernd. Wut sprach aus jeder Bewegung, doch niemand wagte, mich anzugreifen.

Jemand hatte den Umriß eines mannsgroßen Vogels an die Wand gemalt, mit weit gespannten Schwingen und einem scharfen Schnabel wie eine Säbelklinge. Die Striche, offenbar mit Händen grob gezogen, waren dunkelrot, fast braun. Sie glitzerten feucht. Die Krallen des Vogels endeten am Boden, und dort lag, in einer sternförmigen Lache aus Blut, ein totes Kind. Es war der lahme Junge, dem ich wenige Tage zuvor begegnet war. Sein Mörder hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. In seiner Stirn steckte ein Dolch.

Der monströse Blutvogel war ein Zerrbild des herzoglichen Wappentieres.

Der Dolch aber war mein eigener.